Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)
stand, würden sich Personen in einem Zwei-Meter-Radius von der Explosion befinden, könnte dies zu Schwerhörigkeit führen, und durch Plastiksplitter könnte es zu leichten Verletzungen kommen, weshalb Lea die Demonstranten anwies, ein kleines Stück zurückzutreten. Die Gesichter weiter in Richtung Sonnenschirm gerichtet, liefen sie rückwärts, und nach einer Weile nahm der Junge die Finger aus dem Mund und gab zögerlich das Daumen-hoch-Zeichen. Sie wusste nicht genau, wie sie darauf reagieren sollte, also machte sie auch das Daumen-hoch-Zeichen; er war weit genug weg. Dann legte sie schnell die Hand wieder an die Waffe.
Die Schockgranate war orange und kegelförmig. Ein roter Strich führte einmal rundherum. Sie hielt sie fest und hob dann einen Stein vom Boden auf. Ihre Finger lagen steif um die trockene Oberfläche des Steins. Sie ließ ihn von oben in Tomers Hand fallen.
»Du bist der Soldat«, sagte sie. »Außerdem ist es länger her als bei dir, dass ich dieses Zeug gelernt habe. Also Zeit für eine kleine Übung.«
Sie taten so, als wäre der Stein eine Granate. Obwohl sie die Anleitung eben erst gelesen hatte, erteilte sie ihm die Anweisungen, als wüsste sie alles auswendig. Sie erinnerte ihn daran, die Granate in die offene Hand zu legen und den Hebel mit dem Zeigefinger zu fixieren. Sie erklärte ihm, wie er den Mittelfinger der linken Hand wie bei einem Ring hinter dem Sicherungshebel durchschieben musste, um dann den Hebel mit einer Drehung des Handgelenks umzulegen, als würde ihn jemand nach der Uhrzeit fragen. Ihre Stimme wurde jetzt etwas lauter, weil er für den Übungswurf schon ausgeholt hatte, ohne die Bewegung mit den Augen zu verfolgen.
»In den Anweisungen heißt es, wenn du die Granate entsichert hast, darfst du sie nicht mehr aus den Augen lassen, weil du nur dreieinhalb Sekunden Zeit hast, bis sie explodiert. Was ist, wenn du mit dem Arm ausholst und gegen eine Wand stößt?«
»Aber ich weiß doch, dass hinter mir keine Wand ist«, sagte er.
»Was, wenn da plötzlich eine wäre? Was, wenn ein Vogel angeflogen käme? Es ist unschön, wenn dir etwas in der Hand explodiert, das gilt auch für Schockgranaten.«
Nach mehreren Probeläufen wurde es Zeit für die Premiere. Der Junge hatte wieder die Finger im Mund, und einer der Männer strich sich mit dem Unterarm über die Augenbraue. Der Asphalt zwischen ihnen strahlte Hitze ab.
»Seid ihr so weit?«, rief sie ihnen zu. Dann steckten Tomer und sie sich die Ohrstöpsel rein.
Sie dachte, nichts auf der Welt, wogegen man sich mit Schaumstoffstückchen in den Ohren schützen konnte, konnte allzu mächtig sein, aber jedes Mal, wenn eine Granate explodierte, spürte sie den Knall als einen Stoß gegen die Hüftknochen und eine Metallspur im Mund.
Sie dachte, dass die drei länger durchhalten würden, aber nach vier Granaten war die Demonstration versprengt. Alles lief nach Plan, genau so, wie sie oder jeder andere an ihrer Stelle das erwartet hätte.
In der Schule war ihr jede Minute wie ein Wettlauf vorgekommen. Um eine bestimmte Zensur zu bekommen. Diesen einen Jungen. Um ein bestimmtes T-Shirt kaufen zu können. Das beliebteste Mädchen zu sein. Lass nicht zu, dass irgendein anderes Mädchen dir nicht mehr gehorcht. Schmeiß die besten Partys. Los, los, los, damit du die Erste bist. Aber die Armee war eine betäubende Pause von diesem atemlosen, achtzehn Jahre dauernden Wettlauf. Die Armeezeit hatte einen Anfang und ein Ende, und das wusste sie. Alles dazwischen war im Besitz dieser festgelegten Anfangs- und Enddaten, und nichts, was sie in dieser Zeit machte, hatte die geringste Bedeutung. Egal, was sie machte, die Armee würde irgendwann aufhören. Sie würde an derselben Stelle neben dem Stützpunkt ankommen, an derselben Station, wo die Soldaten am Ende ihre Uniform zurückgaben. Weil sie das wusste, war es schwer, irgendwas zu fühlen. Die meisten ihrer Tage bestanden aus Abläufen und Anweisungen, daraus, dass sie auf einer möglichst graden Linie einen Punkt mit dem nächsten verband.
Manchmal versuchte sie noch ein bisschen von der Linie abzuweichen, so wie sie in der Schule manchmal mit dem Bleistift abgerutscht war, wenn sie mit dem Lineal eine Linie zeichnen wollte und zu fest aufgedrückt hatte. Sie versuchte es manchmal mit Sex, Schmerz und schockierenden Zeitungsartikeln, aber nur manchmal.
Reizgas
In dem Zeitungsartikel, den Tomer an dem Abend mit zur Absperrung brachte, ging es um ein Mädchen, das von seiner
Weitere Kostenlose Bücher