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Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Titel: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shani Boianjiu
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darum wussten die Menschen in Afrika nicht mal, ob sich die Menschen in Russland noch an sie erinnerten.«
    »Aber sind sie je zurückgekommen?«
    »Na ja, irgendwann fingen die Menschen in Russland und Afrika und sogar die Eisbären, also alle Menschen und Tiere, die nie in dem einen Land gelebt hatten, an, alle Menschen, die mal in dem Land gelebt hatten, umzubringen.«
    »Sind sie ertrunken?«
    »Ertrunken?«
    »Wie mein Fisch?«
    Avi dachte daran, wie die Leiche seiner Mutter an dem Tag ausgesehen hatte, als sie Tripolis verlassen hatten: rot und lila und geschwollen, er dachte daran, wie sie sie umgebracht hatten. Er dachte an den Gestank, der aus den Bewässerungsgräben gestiegen war, die rings um die Häuserwände angelegt waren. Als Kind hatte er gewusst, wie der Tod aussah. Avishag wusste mit acht nur das von ihrem Fisch. Er war gestorben, als sie vier war. Ihre Mutter hatte ihn ihr noch nicht mal gezeigt. Sie hatte ihr erzählt, er wäre ertrunken. Das war gut. Aber es entsprach nicht ganz der Wahrheit.
    »Ja, Kleines, sie haben sie ertränkt.«
    »Oh nein!«
    »Aber ein paar haben es aus dem Wasser rausgeschafft.«
    »Zum Glück! Und was war dann?«
    »Dann haben alle, die es aus dem Wasser geschafft haben, beschlossen, in das Land zurückzukehren, aus dem sie vor Millionen Jahren weggegangen waren. Aus Afrika, aus Russland und von überall auf der Welt kamen sie wieder zurück in das Land.«
    »Und was war dann?«
    »Was meinst du mit, ›was war dann‹?«
    »Was haben sie dort gemacht?«
    »Gelebt.«
    »Aber was haben sie gemacht?«
    »Sie haben gelebt. Sie haben gelebt wie wir. Sie haben Häuser und Straßen gebaut und Bäume gepflanzt. Du weißt schon, gearbeitet eben.«
    »Und was war dann?«
    Die deutsche Sozialarbeiterin zeigte auf ihre Armbanduhr. Die Zeit war vorbei.
    Avishag musste die Geschichte ihrer Mutter erzählt haben, oder vielleicht war es auch die Sozialarbeiterin gewesen. Mira hatte sich nicht dafür interessiert. Für den Teil mit dem Ertränken. Das war’s dann. Sie bekam das alleinige Sorgerecht. Sie nahm die Kinder und zog in irgendein Dorf im Norden, wo sie als Lehrerin arbeitete.
    Als er Avishag das nächste Mal sehen durfte, war sie schon neunzehn. Eine Soldatin. Ihre Schultern spannten unter der Uniform. Sie trafen sich in einem McDonald’s vor ihrem Stützpunkt. Das war das Einzige, was die ganze Nacht geöffnet hatte, und frei hatte sie nur morgens um halb sechs. Sie war als Soldatin der Infanterie in der einzigen Kampfeinheit für Frauen an der Grenze zu Ägypten stationiert, und eins der anderen Mädchen musste gefragt haben, dass sie ihre Schicht übernahm, denn beim Reinkommen schrie sie gerade in ihr klobiges Militärhandy.
    »Was soll das heißen, du hast nach deinem Arzttermin den Bus verpasst?«, kläffte sie ins Telefon, während sie die Hand hob, um Avi zu signalisieren, bin gleich da . Die andere Hand lag fest um den schwarzen Griff ihres M16.
    »Fick dich, Schwuchtel, hast du gehört?«, sagte seine Tochter am Telefon zu dem anderen Monitor-Mädchen. »Fick deine Mutter in den Arsch und verscharr sie im Sand, aber lass mich in Ruhe.«
    Sie legte auf und setzte sich vor Avi. Ihr Gesicht war immer noch dunkel, aber ihre Haare waren zu einem strengen Dutt hochgesteckt, und die seltsam gezupften Augenbrauen nahmen ihrem Gesicht alle Ähnlichkeit mit seinem. Da war kein Anzeichen mehr von dem stillen, schüchternen Mädchen, das er gekannt hatte. Das Ein-Schekel-Eis, das er für sie gekauft hatte, tropfte auf den roten Plastiktisch. Die einzigen Frauen, mit denen er während seiner Dienstzeit zu tun gehabt hatte, waren Sekretärinnen gewesen, die den ranghöchsten Offizieren Kaffee gekocht hatten.
    »Was willst du eigentlich?«, fragte Avishag.
    Das nächste Mal sah er sie, nachdem seine Frau ihn angerufen und ihm gesagt hatte, seine älteste Tochter hätte das Bett seit über zwei Monaten nicht mehr verlassen, falls ihn das irgendwie interessierte.
    Sie war wegen eines albernen Streichs, irgendwas mit Nacktheit während der Wachschicht, im Militärgefängnis gewesen, und ein paar Wochen nachdem sie rausgekommen war, hatte die Armee sie entlassen. Aber als sie zurückkam, war sie nicht mehr dieselbe. Verhielt sich ein bisschen seltsam.
    »Ich komme sofort vorbei«, sagte Avi. »Ich kauf’ ihr ein Auto.«
    »Sie kann nicht fahren«, sagte seine Exfrau. Ihre Stimme war müde, aber es war trotzdem ihre Stimme; die Stimme, die er seit Jahren nicht gehört hatte.
    In

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