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Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Titel: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shani Boianjiu
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gegen den Bordstein krachte. Die Tür quietschte.
    »Tut mir leid«, sagte sie.
    Dann öffnete sie die Tür schneller und schrammte wirklich am Bordstein lang. »Tut mir leid«, sagte sie.
    Als sie endlich im Auto saß, zog sie sanft die Tür ran, zu sanft; sie ging nicht richtig zu. Also zog sie sie fester zu. Rums.
    »Tut mir leid«, sagte sie.
    Zu fest, sie hatte sie zu fest zugeknallt. »Tut mir leid, tut mir leid«, sagte sie.
    Im Wagen streckte Avishag die Hände nach oben, als würde sie gegen einen Bären kämpfen.
    Avi setzte sich auf den Fahrersitz; die Hände unter den Achseln und die Ellenbogen auf dem Bauch abgestützt, starrte er sie an.
    Tausendmal am Tag, »tut mir leid«. Das war fast das Einzige, was sie sagte, »tut mir leid«.
    »Tut mir leid.«
    Das war ihre Art, ihm zu sagen, tu was .
    »Was tut dir leid?«, fragte er. »Dass du dieses Lenkrad nicht mal anfasst, das ist das Einzige, was dir leid tun sollte.«
    So war sie, seine mittlere Tochter. Mit dem jüngeren Mädchen hatte er nicht mehr geredet, seit er ausgezogen war. Dan hatte er zuletzt als Zehnjährigen gesehen, und die Mutter seiner Exfrau hatte ihn damals gebeten, nicht zur Beerdigung zu kommen. Das jüngere Mädchen hatte mittlerweile den dämlichen Spitznamen »Tzipi« und war glücklich, hatte seine Exfrau Mira ihm das eine Mal erzählt, als er Avishag nach einer ihrer »Fahrstunden« nach Hause gebracht hatte. Damit meinte sie, glücklich, nicht mit dir sprechen zu müssen . Aber Avishag, sie hatte diese Art, ihm Wörter in den Mund zu zaubern. Ganze Geschichten sogar. Manchmal fuhr er sechs Stunden und länger mit ihr herum. Keiner von ihnen sagte auch nur ein Wort, aber wenn er sie zu Hause absetzte, hatte er das Gefühl, etwas gelernt zu haben, auch wenn er nicht genau wusste, was es war. Als gäbe es noch etwas anderes, das er hätte tun können, aber nicht getan hatte.
    »Nur eine Hand«, sagte Avi.
    Sie war lange still. Sie war immer still. Aber plötzlich. »Weißt du«, sagte sie. »Bei der Armee hab ich mal gesehen, wie sie einer Frau aus der Ukraine in den Kopf geschossen haben.«
    »Einer Frau aus der Ukraine?«
    »Vielleicht war sie auch noch ein Mädchen.«
    Avishag führte die Spitze ihres Pferdeschwanzes zum Mund und ließ dann los.
    Okay , dachte Avi. Okay , und außerdem, zumindest weiß ich’s jetzt . Und er holte tief Luft.
    »Das ist also der Grund?«
    Avishag zog die Augenbrauen zusammen. Fast hätte sie sich sogar zu ihrem Vater gedreht. Eine so ausdrucksstarke Miene hatte sie schon ewig nicht mehr zustande gebracht. Sie war verwirrt. »Was meinst du? Der Grund wofür?«, fragte sie.
    »Na du weißt schon«, sagte er. »Der Grund, warum du nicht Auto fährst und –«
    »Wie, der Grund? Was soll das? Ich hab nur Angst vorm Autofahren, das ist alles.«
    »Du hast nur Angst?«
    »Ja, Angst.«
    Und in dem Augenblick wusste Avi wieder, was er schon geahnt hatte, jetzt aber genau wusste. Es gab nur sie. Keinen Grund. Da war nur seine Tochter.
    Avi beugte sich rüber und öffnete das Handschuhfach. Er roch den Fußschweiß seiner Tochter. Er fragte sich, wann sie wohl das letzte Mal geduscht hatte. Er zog ein lilafarbenes Tuch heraus, das er immer dabei hatte. Das Tuch seiner Mutter. Das Einzige, was ihm von ihr geblieben war.
    »Mach die Augen zu«, sagte Avi und Avishag gehorchte. Er band ihr das Tuch fest um die Augen. Sie rührte sich nicht. Er fingierte einen Faustschlag ins Gesicht. Sie zuckte nicht mal. So vergewisserte er sich, dass sie auch ja nichts sehen konnte.

    Die Geschichte: »Es gab einmal ein Land, in dem Menschen lebten. Dann kam ein König, und er wollte das Land für sich allein haben, also schickte er die Menschen in die ganze Welt hinaus. Eine Schwester steckte er in den einen Teil der Welt und eine andere Schwester in einen anderen Teil der Welt. Ein paar schickte er nach Russland. Andere nach Afrika. Ein paar von ihnen schickte er sogar dorthin, wo die Eisbären leben.«
    »Eisbären, Papa?«
    »Ja, Süße.«
    »Was ist dann passiert?«
    »Dann lebten die Menschen aus diesem Land überall auf der Welt. Es vergingen viele Jahre. Millionen Jahre. Aber sie konnten nicht vergessen, dass sie eigentlich nicht aus Russland waren oder aus Afrika, dass sie aus diesem einen Land kamen, und sie verloren nie die Hoffnung, dass sie eines Tages zurückgehen könnten.«
    »Und sind sie zurückgegangen?«
    »Erst nicht, Kleines. Sie wollten, aber sie wussten nicht wie. Damals gab es noch keine Telefone,

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