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Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Titel: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shani Boianjiu
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Tripolis war es üblich, dass Männer ihre Frauen schlugen. Sein Vater hatte das auf jeden Fall gemacht. Er hatte es jahrelang bedauert, seine Frau nicht in einer anderen Zeit, in einem anderen Land kennengelernt zu haben, wo die Dinge nicht so außer Kontrolle geraten wären, wo es keine deutschen Sozialarbeiter gegeben hätte. Aber er hatte seine Frau nun mal genau dann und dort getroffen, in den Einwanderungs-Containern. Sie war aus Bagdad gekommen, wo ihr Vater als Juwelier gearbeitet hatte. Sie konnte vier Sprachen sprechen. Als sie sich trafen, standen sie mit dutzenden anderen neuen Flüchtlingen nackt auf dem Asphalt vor den Containern, von oben bis unten mit DDT bedeckt, einem Pestizid, das aus Flugzeugen auf sie herabgeregnet war. Die Europäer in den Büros der Einwanderungsbehörde hatten Angst, sie könnten Krankheiten übertragen. Seine künftige Frau stand da, nackt, entwürdigt und von den Chemikalien ganz weiß, aber dunkel in den Augen und im Herzen, voller Sehnsucht nach dem Flugzeug, mit dem sie gekommen war. Sie war vierzehn, vier Jahre älter als er. Er versprach ihr, dass alles gut werden würde, dabei kannte er noch nicht mal ihren Namen.
    »Alles wird gut«, sagte er zu seiner Exfrau Mira am Telefon, als sie nach all der Zeit anrief. »Ich bring es ihr bei, ich kaufe ihr einen Subaru.«
    »Einen Subaru?«, fragte Mira.
    »Ich bin ihr Vater.«

    Sie fuhren sehr lange herum. Über zwei Stunden. Avi konnte sehen, wie sie am Militärfriedhof auf dem Herzlberg und dem Krankenhaus auf dem Skopusberg vorbeifuhren, in dem Avishag geboren war. Miras Familie war von dort, wo sie sich kennengelernt hatten, nach Jerusalem gezogen, aber er hatte nie den Kontakt zu ihr verloren. Sie wollte unbedingt, dass Avishag in Jerusalem zur Welt kam, obwohl sie sich damals nur eine Wohnung in Bat Jam leisten konnten.
    Avishags Augen waren die ganze Zeit über verbunden, aber sie roch, wie sich die Luft hügelabwärts veränderte, der Geruch von Pinien und Felsen wurde zu einem feuchten Geruch, einem Grillgeruch, Bier, Sonnencreme, Teer, der Strand und irgendwann nur noch das Meer.
    Jerusalem ist auf drei Seiten von Land umgeben. Darum wusste sie, dass sie in Tel Aviv sein musste, noch bevor sie etwas sehen konnte.
    Das Auto war nicht geeignet, um durch den Sand zu fahren, und erst recht nicht, um über diesen wackligen Angelsteg zu fahren, aber das war Avi egal. Die Autoreifen rollten über das morsche Holz. Den ganzen Weg, ohne zu wissen, wohin er fuhr. Er ließ sich von dem Auto fahren.
    Avi legte seiner Tochter die Hand auf die Stirn, dann löste er das Tuch. Das orangene Sonnenlicht stach ihr in die Augen, aber sie ließ sie geöffnet. Die Sonne traf orangefarben aufs Wasser, dann traf das orangene Wasser auf ihre Augen. Sie ließ die Augen geöffnet. Es war windstill und das Mittelmeer lag ruhig da. Keine Menschenseele, nicht mal eine Möwe, nur ihr Vater und sie im Auto. Er hatte das Auto bis ganz nach vorn an den Rand des Stegs gefahren.
    »Wollen wir Plätze tauschen?«, fragte er. »Das solltest du dir nicht entgehen lassen«, sagte ihr Vater. »Die Sonne geht unter. Setz dich einfach mal auf den Fahrersitz«, sagte ihr Vater. »Du musst einfach nur dasitzen. Das Auto fährt dir nicht weg.«
    Er wollte sie schütteln, aber er ließ es sein.
    Nach fünf Minuten wollte sie die Plätze tauschen.
    So richtig können sich manche Teile dieses Landes manchmal anfühlen , dachte ihr Vater.
    Sie tauschten die Plätze. Er hatte es noch nie geschafft, dass sie sich auf den Fahrersitz setzte.
    Er beobachtete ihre Hände am Lenkrad, die kleinen Hände, die selbst für einen kleinen Körper unverhältnismäßig klein waren. An dem Tag, an dem er sie in Uniform gesehen hatte, war ihm aufgefallen, wie ungewöhnlich es war, eine so kleine Hand wie ihre am Griff eines M16 zu sehen.
    Er erinnerte sich, wie zart die Berührung ihrer Hände gewesen war, die sein Gesicht umschlossen hielten, als sie acht war, an dem Tag, an dem er ihr die erste und letzte Geschichte geschenkt hatte, die er je erzählen würde. Sie hatte feuchte Hände, aber der Kinderschweiß roch süßlich. Er erinnerte sich an ihre hohe, aufgeregte Stimme, als sie immer wieder gefragt hatte, »und was war dann? Und was war dann?«. Und dann erinnerte er sich, wie ihre Zeit vorbei gewesen war.
    Seine Tochter umfasste das Lenkrad fester. Die Sonne ging unter; er sah die orangenen Linien auf dem Wasser immer länger werden. Auch dieser Augenblick wäre bald

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