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Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Titel: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shani Boianjiu
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vorbei. Seine Tochter und er würden die Plätze tauschen; er würde sie den ganzen Weg zurück zu ihrer Mutter fahren, weg vom Meer und hinauf in die Berge von Jerusalem. Selbst in dem Augenblick, da er still und liebevoll die kleinen Hände seiner Tochter beobachtete, konnte er sich nur sorgen und fragen: »Und dann?«
    Er wollte mehr. Er wusste, dass er sie jetzt vielleicht wieder monatelang nicht würde überreden können, sich auf den Fahrersitz zu setzen.
    Kurz bevor die orangene Sonne auf das Wasser traf, hörte er sich etwas murmeln. Seine Lippen sagten, dass sie das Auto ins Wasser fahren könne, wenn sie wolle. Wenn sie nicht ertranken, würde er ihr ein neues kaufen.
    Er sagte es im Spaß, aber dann meinte er es ernst.

    Sie drehte den Schlüssel im Zündschloss. Sie wusste nicht, was sie als Nächstes tun musste. Das Auto grummelte; ihre Oberschenkel in den Männershorts vibrierten mit. Sie schaute ihren Vater an. Dann berührte sie den Schalthebel, der sich nicht bewegen ließ, sie dachte, sie könnte ihn nicht bewegen, er war wie ein Schwert, das in einem Stein steckte, aber dann bewegte er sich doch; er rastete irgendwo ein, dann noch mal; dann hatte sie keine Kraft mehr in der Hand, gar keine; hätte sie irgendjemand mit einer Waffe bedroht, hätte sie nicht mal eine Faust machen können.
    Sie dachte, sie wäre gelähmt, darum versuchte sie, die Zehen einzurollen, und das war eine Überraschung: sie konnte sie bewegen, die langen Zehennägel kratzten innen über die Sandalen. Sie konnte auch den Kopf drehen. Sie schaute ihren Vater an. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er dachte, er sollte etwas tun, wusste aber nicht was. Er dachte, es gibt immer ein erstes Mal.
    Er legte den Gang ein. Er spürte es, bevor sie aufs Gas trat. Ihren Fuß. Ihren Körper. Er war ein Teil von ihm, von dem Wagen und dem Land.

    Nachdem sie die Tür geöffnet hatte und herausgeschwommen war, konnte sie unter Wasser nichts als trübes Grün sehen. Sie erinnerte sich, wie sich ihr Fuß bewegt hatte, wie er das ganze Auto bewegt hatte, diese ganze Kraft. Sie trat mit dem Fuß nach unten und spürte den Meeresboden weich und kühl zwischen den Zehen. Ihre Haare berührten zuerst die Wasseroberfläche, und dann schaute ihr ganzes Gesicht aus dem Wasser, raus in die warme Luft und die Sonne. Sie öffnete den Mund und schnappte nach Luft. Dann wusste sie nicht, was sie tun sollte. Sie wurde wieder nach unten gezogen. Wieder trat sie mit dem Fuß und spürte, wie ihr Körper nach oben stieg, allerdings nicht weit genug. Sie dachte an ihren Vater, konnte ihn aber nicht sehen und wusste nicht, was sie tun sollte, doch dann wurde es ihr klar. Sie schlug mit der Faust auf das Wasser ein. Dann trat sie es. Dann boxte sie es mit der anderen Hand. Dann trat sie mit dem anderen Fuß zu. Hand, Fuß, Hand, Fuß, Hand, Hand, Hand und so weiter, und obwohl sie ein Mädchen aus Jerusalem war, obwohl sie das noch nie gemacht hatte, bewegte sie sich schon bald vorwärts, schwamm, glitt dahin. Es war das Seltsamste überhaupt; sie konnte kaum atmen, aschgraue Punkte flitzten an ihren Augen vorbei, aber mit jeder Gewaltanstrengung ihres Körpers konnte sie sie hören; hören, dass sie sie traf; alle, die im Holocaust ertrunken waren und in Tripolis und in Bagdad und sogar am Nordpol, und sie antworteten ihr ohne Schmerzen, aber mit zwei Fragen: Wohin, Kleines? Was kommt als Nächstes, Kind?
    Als ihr Vater sich aus dem Auto befreit hatte, schwamm er allein zurück an den Strand und sah sie minutenlang schwimmen, Minuten, die wie Tage erschienen und all die Jahre waren, Jahre, die er sie nicht hatte aufwachsen sehen. Und da war seine Tochter, sie schwamm, und er wusste, dass sie irgendwann am Strand und bei ihm ankommen würde. Sie kam an den Strand, die Sachen triefnass, und setzte sich schweigend neben ihn in den Sand. Er legte den nassen Arm um sie und sein Herz pulsierte durch ihre Stirn in sie hinein, sie atmete ruhiger, sie atmeten im Gleichklang. Sie roch seinen Schweiß und wusste etwas Neues, etwas, das nur sie allein wusste und das sie bis zu dieser Sekunde auch nicht gewusst hatte, aber was ihr jetzt so klar war, dass es ihre Lungen zum Platzen bringen konnte. Sie wusste, dass sie nicht diese vorübergehende Zubari-Hysterie hatte. Sie wusste, dass sie ihr ganzes Leben lang traurig sein würde, ihr ganzes Leben lang.

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