Das Wahre Kreuz
dem ich über Ourida und über all das, was mir im Tal der Abnaa Al Salieb widerfahren war, hätte sprechen können. Vielleicht konnte mein Onkel, wenn er die Fakten kannte, daraus einen Schluß ziehen, der uns auf Ouridas Spur brachte.
Ich erhob mich und verließ den Salon, um das Schwert zu holen, das ich hinter Bonapartes Palast erbeutet hatte. Zurück im Salon, legte ich es vor meinem Onkel auf den Tisch. »Sie haben recht wie immer, Onkel. Ich habe Ihnen etwas verschwiegen, und jetzt weiß ich, daß das ein Fehler war. Was ich eben gemeint ha-be, war, daß ich Ourida schon einmal verloren habe, vor sechshundert Jahren. Und wenn nicht ich, dann jemand, mit dem ich auf unheimliche Weise über die Zeit hinweg verbunden bin. Seit damals werden Ouridas Töchter, die wie sie heißen, von diesen Rittern verfolgt.« Ich legte eine Hand auf das Schwert. »Von den Rittern vom Verlorenen Kreuz!«
Es war weit nach Mitternacht, als ich meine Erzählung beendet und Onkel Jean in alles eingeweiht hatte. Nur selten hatte er mich unterbrochen, und jetzt schwieg er, im Stuhl zurückgelehnt und die Beine ausgestreckt, eine ganze Weile und schien über das Gehörte nachzudenken.
»Das ist eine wilde Geschichte«, sagte er endlich.
»Hätte ein anderer sie mir erzählt, ich hätte ihn ins Irrenhaus einweisen lassen.«
»Und mir glauben Sie, Onkel?«
»Ich habe gespürt, daß du mir etwas verheimlichst, und jetzt spüre ich, daß du die Wahrheit sagst.«
»Aber vielleicht glaube ich nur, daß es die Wahrheit ist. Ein Verrückter hält seine Wahnvorstellungen doch auch für wahr, oder? Dann hätte ich nicht gelogen, und doch wäre es nicht die Wahrheit.« Ich preßte die Hän-de gegen meine Schläfen. »Manchmal glaube ich wirklich, ich bin irre und bilde mir das alles nur ein. Vielleicht wache ich morgen früh in Frankreich auf und stelle fest, daß ich niemals in Ägypten gewesen bin.«
Mein Onkel betrachtete das Schwert auf dem Tisch.
»Ich weiß, daß ich in Ägypten bin. Das Schwert hier ist real, ist handfestes, todbringendes Eisen, keine Einbildung. Und die Ritter habe ich in dem Wüstentempel ebenso gesehen wie du, Bastien. Wenn du also verrückt bist, bin ich es genauso.«
»Sollte mich das trösten?«
»Zu wissen, daß man nicht allein ist, sollte immer tröstlich sein.«
»Das ist wahr«, sagte ich aus tiefstem Herzen und sah Onkel Jean dankbar an. »Ich bin froh, daß ich Ihnen alles erzählt habe.«
»Ich ebenfalls, auch wenn ich zugeben muß, daß ich im Augenblick noch etwas verwirrt bin.«
»Damit sind Sie nicht allein, Onkel.«
Wir blickten einander in die Augen und lachten im selben Moment los, ein wahrhaft befreiendes Lachen.
Zum ersten Mal seit dem Massaker an den Abnaa Al Salieb spürte ich, daß ich die heitere Seite meines Wesens nicht verloren hatte – daß ich noch ein ganzer Mensch war.
»Das Wahre Kreuz also«, murmelte Onkel Jean. »Es klingt unglaublich, und doch paßt es ins Bild.«
»In welches Bild?«
»Seit das Kreuz nach der Schlacht bei Hattin in Saladins Hände fiel, gilt es als verschollen. Kein Wunder, wenn Saladin nachträglich herausgefunden hat, daß er nur eine kostbare, aber dennoch leere Hülle besitzt.
Hätte er das bekannt werden lassen, wäre der Glauben der Muslime an ihn und damit seine Machtposition erschüttert worden. Seinen Gegnern unter den eigenen Glaubensgenossen hätte das Auftrieb gegeben, und die Moral seiner Truppen wäre gesunken. Er konnte also gar nichts anderes tun, als den Mantel des Schweigens über die Angelegenheit zu breiten. Das Wahre Kreuz in Vergessenheit geraten zu lassen war seine einzige Möglichkeit, nicht bloßgestellt zu werden.«
»Aber hat er überhaupt gewußt, daß das vor Gold und Silber glänzende Kreuz, das er erbeutet hatte, nur die Hülle des Wahren Kreuzes war?«
»Davon müssen wir ausgehen. Sicher hat er das Beutestück untersuchen lassen. Außerdem ist allgemein bekannt, daß das Kreuz Jesu nur aus Splittern besteht und nicht vollständig erhalten ist.«
»Wirklich?« fragte ich. »Da habe ich im Unterricht in St. Jacques wohl nicht richtig aufgepaßt.«
Onkel Jean beugte sich vor, teilte den Rest des Weins unter uns auf und sagte: »Die Legende des Wahren Kreuzes geht zurück auf Kaiserin Helena, die Mutter Konstantins des Großen. Wie du aus dem Unterricht sicher noch weißt, war sie eine sehr fromme Frau, die um das Jahr 325 eine Pilgerfahrt ins Heilige Land unternahm. Dort soll sie das Kreuz Christi, damals noch
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