Das Wahre Kreuz
die ich einsortiert hatte, wieder aus den Regalen und legte auch sie zurück auf Tisch und Boden. Das tat ich ganz mechanisch, und hätte man mich nach einer Erklärung gefragt, wäre ich die Antwort schuldig geblieben.
Mein Onkel sollte nicht merken, daß ich hinter sein Geheimnis gekommen war, sicher, aber warum nicht?
Ich wußte es nicht. Er mochte gute Gründe für sein Schweigen haben, so wie ich gute Gründe gehabt hatte, ihm erst spät von dem zu berichten, was ich im Tal der Abnaa Al Salieb erfahren hatte. Obwohl auch ich nicht immer offen zu ihm gewesen war, konnte ich das Ge-fühl nicht abschütteln, betrogen worden zu sein. Von dem einzigen Menschen, dem ich seit meiner Kindheit vertraute.
Ich lief hinaus in den Garten, hatte aber kein Auge für die Schönheit der Natur. Ruhelos wanderte ich umher und wäre um ein Haar auf einen Igel getreten, der träge mitten auf dem Weg hockte.
Meine Gedanken kreisten um das eben Gelesene: Das Wahre Kreuz sei ein paar ausgesuchten Rittern mit dem Auftrag übergeben worden, es vor den Truppen Saladins zu retten. Diese Ritter sollen in der Wüste Aufnahme bei einem Beduinenstamm gefunden haben, bei dem, so die Legende, das Kreuz noch heute in Verwahrung ist.
Das waren die Kernsätze, die das Geheimnis des Wahren Kreuzes – Ouridas Geheimnis – beinhalteten.
Hatte Onkel Jean es schlichtweg vergessen?
Nein, er verfügte über ein ausgezeichnetes Gedäch-tnis und wußte noch nach Jahren, was in welchem Buch stand. Es war ungefähr ein Jahr her, daß er diese Textstelle gelesen und eigens markiert hatte. Sie mußte ihm also etwas bedeutet haben.
Soviel ich auch hin und her überlegte, eine Frage drängte sich immer wieder in den Vordergrund: Hatte Onkel Jean schon nach dem Wahren Kreuz gesucht, lange bevor wir in Ägypten an Land gingen?
Pferdegetrappel und das Rattern eines Wagens rissen mich aus meinen Gedanken, die sich fruchtlos im Kreis drehten. Ich lief zur Straße und sah eine geschlossene Kutsche vor Maruf ibn Saads Haus halten, begleitet von sechs oder sieben Dragonern. Auch der Mann auf dem Kutschbock trug die französische Uniform. Einer der Dragoner stieg ab und öffnete den Verschlag. Mein Onkel stieg aus und dann eine verschleierte Frau. Es konnte niemand anderes sein als Aflah.
Ich straffte mich, ordnete mein zerwühltes Haar und beschloß, mir nichts von meiner Verwirrung anmerken zu lassen. Ich ging zu den beiden hinüber.
»Wie ich sehe, sind Sie erfolgreich gewesen, Onkel«, rief ich schon von weitem.
Er lächelte gequält. »Es war nicht einfach. Bonaparte stand kurz vor einem Tobsuchtsanfall, aber dann ließ er sich doch dazu bewegen, Aflah in die Obhut ihres Vaters zu entlassen. Das ist mehr, als ich erwartet hatte.«
»Also sieht er von einer Hinrichtung ab?«
Onkel Jean nickte.
»Zu welchem Preis?«
»Ich mußte ihn in alles einweihen. Es ließ sich nicht umgehen. Daß er sich in Kairo noch unbeliebter machen würde, wenn er die Tochter des allseits geachteten Maruf ibn Saad hinrichten ließe, hat er zwar eingese-hen, aber sein Drang nach Vergeltung war übermächtig.«
So leise, daß nur mein Onkel es verstand, fragte ich:
»Will Bonaparte das Wahre Kreuz haben? Immerhin hält die Republik nichts von der Kirche und ihren Reliquien.«
Onkel Jean zuckte mit den Schultern. »Laß uns erst einmal Aflah zu ihrem Vater bringen!«
Während die Kutsche und die Dragoner umkehrten, gingen wir mit Aflah zu dem großen, noch immer wie verlassen daliegenden Haus. Mir war, als trüge das ganze Anwesen Trauer.
Der Hausherr selbst öffnete uns, sobald wir den überdachten Eingang erreichten. Offenbar hatte er uns bereits kommen sehen. Hinter ihm standen zwei ältere Dienerinnen. Falls ich ein rührendes Wiedersehen erwartet hatte, wurde ich enttäuscht. Keine Regung in Marufs Gesicht ließ erkennen, was er empfand.
Aflah nahm ihren Schleier ab und sah ihren Vater an. Die geröteten Wangen verrieten, daß sie geweint hatte.
»Verzeih mir, Vater!« bat sie mit zitternder Stimme.
» Uskut ! – Schweig!« erwiderte er. »Wenn ich etwas von dir hören will, werde ich dich fragen. Du wirst jetzt mit Miluda und Sebha gehen und tun, was sie dir sagen!«
Die beiden Dienerinnen nahmen Aflah in ihre Mitte.
Bevor die drei im rückwärtigen Teil des Hauses verschwanden, sah Aflah sich noch einmal zu mir um. In ihrem Blick lag kein Haß mehr, sondern etwas anderes, die Bitte um Verständnis. Ich hätte ihr gern etwas Ver-bindliches gesagt, aber da
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