Das Wahre Kreuz
entfernten sich die Dienerinnen schon mit ihr. Bedauern erfüllte mich, als hätte ich da schon gewußt, daß ich Aflah nicht wiedersehen würde.
»Was geschieht mit ihr?« fragte ich Maruf ibn Saad, auch wenn diese Neugier ungehörig sein mochte. »Ich werde sie zu Verwandten nach Alexandria bringen, die es mit den Geboten des Korans genauer nehmen als ich.
Dort wird sie lernen, wie eine Frau sich zu benehmen hat. Meine Erziehung war falsch. Aflah wird ein anderer Mensch werden und lernen, ihrem Vater zu gehor-chen. Nur dann wird sie eines Tages vielleicht auch einen Mann finden.«
»Und wenn sie es nicht lernt?«
»Dann wird sie nie wieder einen Fuß vor die Tür setzen!« Maruf ibn Saads Einstellung zu seiner Tochter schien sich von Grund auf gewandelt zu haben. Wie stolz war er auf sie gewesen, als wir zum ersten Mal in seinem Haus waren! Stolz und voller Liebe. Jetzt wirkte er kalt. Bestrafte er am Ende sich selbst mehr als Aflah, um seine Tochter vor größerem Unheil zu bewahren?
»Ich habe Ihnen eine Belohnung versprochen«, sagte er. »Folgen Sie mir, bitte!«
Er führte uns in den großen Salon, in dem er uns schon bei unserem ersten Besuch empfangen hatte. Als wir auf den Sitzkissen Platz genommen hatten, fragte er: »Verzichten wir auf alle Höflichkeiten und kommen gleich zum Wesentlichen?«
»Das wäre mir lieb«, antwortete Onkel Jean. »Gut.
Nach unserem letzten Gespräch habe ich aus Forscherdrang die Bibliotheken und Buchhandlungen Kairos nach Informationen über jenen Ritterorden durchfor-stet. Dabei habe ich etwas gefunden, von dem ich damals noch nicht ahnen konnte, daß das Leben meiner Tochter davon abhängt.« Maruf öffnete einen schmalen Holzkasten und entnahm ihm eine zusammengerollte Karte, die er vor uns auf dem Boden ausbreitete. Es war eine mit arabischen Schriftzeichen versehene Landkarte Ägyptens. Außer den Städten waren noch andere Punkte markiert, und zwar jeweils durch einen Turm.
Einige dieser Türme waren schwarz ausgemalt, andere schraffiert.
»Sehen Sie die vielen Türme?« fragte Maruf.
»Ja«, sagte mein Onkel. »Was bedeuten sie?«
Bevor Maruf noch antworten konnte, rief ich: »Festungen! Auf der Karte sind Festungen eingezeichnet!«
»Richtig«, bestätigte Maruf. »Es handelt sich um ei-ne militärische Karte aus dem zwölften Jahrhundert. In dieser Zeit wurden, wie die Karte zeigt, in Ägypten verstärkt Befestigungsanlagen gebaut. Wahrscheinlich, weil man befürchtete, die Kreuzfahrer könnten vom Heiligen Land aus nach Westen vordringen. Die bereits fertiggestellten Festungen sind schwarz ausgemalt, die noch im Bau befindlichen schraffiert.«
Er nahm eine zweite Karte aus dem Kasten und legte sie neben die erste. »Diese Karte ist hundert bis hundertfünfzig Jahre später entstanden. Auch hier sind alle Festungen eingezeichnet, und zwar als Gebäude mit gekreuzten Schwertern. Fällt Ihnen, wenn Sie die Karten miteinander vergleichen, etwas auf?«
Onkel Jean und ich sahen genau hin. Die zweite Karte war in einem größeren Maßstab gezeichnet, aber trotzdem ließen sich beide gut miteinander vergleichen.
»Auf der zweiten Karte sind alle Festungen als vollendet dargestellt«, sagte mein Onkel schließlich. »Ist es das, was Sie meinen, Maruf ibn Saad?«
»Nein.«
Onkel Jean klopfte mir auf die Schulter. »Bastien, du hast doch ein Auge für graphische Darstellungen. Was ist das Geheimnis der zweiten Karte?«
Ich ließ mir Zeit, um die Karten Stück für Stück miteinander zu vergleichen, und dann sah ich es: »Das Geheimnis ist nicht das, was auf der zweiten Karte verzeichnet ist, sondern das, was fehlt. Diese Festung!« Ich zeigte auf eine der schraffierten, also noch im Bau befindlichen Festungen auf der ersten Karte, südwestlich von Kairo. »Sie kommt auf der zweiten Karte nicht vor.«
»Dann ist der Bau wohl nicht vollendet worden«, meinte Onkel Jean.
Unser Gastgeber klatschte in die Hände wie ein zufriedener Lehrer. »Sie haben es herausgefunden! Auch ich habe einige Zeit gebraucht, um dahinterzukom-men.«
»Na schön«, brummte Onkel Jean. »Aber was hat eine unvollendete arabische Festung mit den Kreuzrittern zu tun?«
»Sie wäre ein perfekter Unterschlupf«, sagte Maruf.
»Ich habe keine andere Karte gefunden, auf der sie verzeichnet ist. Eine vergessene Festung, von Kairo vielleicht zwei Tagesritte entfernt. Und nach allem, was Sie mir erzählt haben, müßte die Entfernung von dieser Festung zu dem geheimnisvollen Wüstentempel
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