Das Wahre Kreuz
nicht lange trotzen. Deshalb hat der König befohlen, daß wir den südlichen Hügel besetzen.«
Nur widerstrebend leisteten wir dem Befehl Folge.
Uns hinter Mauern zu verschanzen lag uns nicht, aber wir mußten Gehorsam zeigen. Außerdem stimmte es: Ohne Unterstützung durch die Fußtruppen konnten wir uns im flachen Gelände auf Dauer nicht behaupten.
Also wandten wir uns, wenn auch murrend, dem südlichen Horn von Hattin zu. Ich dachte zurück an die morgendliche Messe, an das leuchtende Kreuz, das uns mit solcher Zuversicht erfüllt hatte. Wir hatten den Tag voller Tatendurst begonnen, und nun fühlte ich mich als Teil einer geschlagenen Armee. Ein blasphemischer Gedanke stieg in mir auf: Besaß das Wahre Kreuz gar nicht die Kraft, die ihm zugeschrieben wurde?
19. KAPITEL
Das Wahre Kreuz
ur sehr langsam fand ich ins Hier und Jetzt zu-N rück, begriff, daß ich mich nicht bei den Hörnern von Hattin befand, belagert von vielen tausend Feinden, sondern im friedlichen Tal der Abnaa Al Salieb. Neben mir saß, wie auch ich mit dem Rücken gegen den Stamm einer Dattelpalme gelehnt, Jussuf und blickte mich abwartend an.
Ich sagte erst einmal nichts, sondern beugte mich über das Rinnsal zu unseren Füßen, weil mich ein quä-
lender Durst plagte. Als sei es nicht mein Durst, sondern der von Roland de Giraud. Die Schlacht stand mir noch so deutlich vor Augen, als hätte ich nicht nur in die Vergangenheit geschaut; es war, als hätte ich die Strapazen am eigenen Leib gespürt.
Als ich meinen Durst gelöscht hatte, wandte ich mich wieder Jussuf zu. Er hatte etwas Ähnliches mit mir gemacht wie Ourida. Wenn ich mir in ihrem Fall nicht sicher war, ob das absichtlich geschehen war, beim Scheik der Abnaa Al Salieb war ich mir dessen ganz sicher. Ich hatte ihn um Antworten gebeten, und er hatte dazu nicht seinen Mund benutzt, sondern …
Was eigentlich war es, das die Schranken von Zeit und Raum aufhob? Seine Augen, in die ich versunken war? Oder doch eher sein Geist?
Was es auch war, das Vorkommnis beunruhigte mich, obwohl ich so etwas schon in Ouridas Beisein erlebt hatte. Aber da war der Sprung in die Vergangenheit, wie ich es bei mir nannte, nur kurz gewesen und bei weitem nicht so intensiv.
»Du siehst mitgenommen aus, Musâfir. Ich fürchte, ich habe dir zuviel zugemutet.«
»Eher das Gegenteil«, murmelte ich. »Statt schlauer als vorher bin ich jetzt nur noch verwirrter.«
»Weil du erst einen Teil des Ganzen gesehen hast.
Wer einen einzigen Flötenton hört, kennt noch nicht das ganze Lied. Aber mit der Schlacht, die du erlebt hast, begann die Blutfeindschaft zwischen den Kreuzrittern und den Abnaa Al Salieb.«
»Die Schlacht von Hattin«, sagte ich leise und kramte in meiner Erinnerung nach allem, was ich darüber wuß-
te.
1187 war der zwei Jahre zuvor geschlossene und auf vier Jahre angelegte Waffenstillstand zwischen Kreuzfahrern und Muslimen von Sultan Saladin aufgekündigt worden. Die genauen Umstände waren nicht bekannt.
Vermutlich entbrannte der Konflikt erneut, weil Renaud de Châtillon, der den Muslimen ablehnend gegenüberstand, anno 1186 eine ihrer Karawanen überfallen hatte.
Vielleicht nur, um Beute zu machen. Möglicherweise hatte er aber auch durch den bewaffneten Geleitschutz der Karawane den Waffenstillstand verletzt gesehen.
Jedenfalls kam es im Juli des Jahres 1187 zur zweitä-
gigen Schlacht bei Hattin, an deren Ende die fast vollständige Vernichtung des christlichen Heeres stand. Was um so schwerer wog, als König Guido von Jerusalem den Heerbann ausgerufen und so gut wie jeden verfügbaren Mann zu den Waffen gerufen hatte. In den Städten und befestigten Plätzen waren kaum Verteidiger zu-rückgeblieben. Nach seinem Sieg bei Hattin mußte Saladin kaum noch mit nennenswertem Widerstand rechnen und konnte eine Stadt nach der anderen einnehmen.
Auch Jerusalem, wo der aus der Schlacht bei Hattin zu-rückgekehrte Balian d’Ibelin den Oberbefehl über die Verteidiger erhielt, mußte sich schließlich ergeben.
»Blutig und gnadenlos, wie fast alle Schlachten sind«, faßte Jussuf meine Gedanken in Worte. »An die zwanzigtausend Christen haben dabei ihr Leben verloren oder sind gefangengenommen und als Sklaven verkauft worden. Es war die Strafe dafür, daß sie in ein fremdes Land eingefallen waren.«
Die letzten Worte erregten meinen Widerspruch:
»Auch Sultan Saladin war nicht nur ein Freiheitsheld.
Die meisten seiner Kriege führte er gegen andere islamische
Weitere Kostenlose Bücher