Das Wahre Kreuz
an das Kreuz Jesu, sondern auch an Ourida – und an das Kind, das in ihr heranwuchs.
Sie blickte mir tief in die Augen, jetzt scheinbar wieder vollkommen furchtlos. »Warum ich? Mein Pferd ist gestürzt, nicht das deine.«
»Aber ich kann unsere Verfolger mit meinem Schwert eine Weile aufhalten und dir einen vielleicht entscheidenden Vorsprung verschaffen.«
Sie ergriff meine Linke, drückte sie fest und sagte mit erstickter Stimme: »Du sollst nicht sterben!«
»Ich will nicht sterben. Aber ich habe geschworen, das Kreuz mit meinem Leben zu verteidigen. Du weißt, daß es keine andere Möglichkeit gibt. Je länger du zö-
gerst, desto größer die Gefahr, daß unsere Verfolger finden, wonach sie suchen. Ich werde versuchen, es lebend zu überstehen. Aber du mußt reiten, jetzt!«
Sie nickte stumm, und Tränen rannen ihr übers Gesicht. Ein letzter Kuß, dann wandte sie sich ab und lief zu dem Braunen. Sie stieg aufs Pferd, vergewisserte sich, daß der Lederbeutel mit dem wertvollen Inhalt gut am Sattel festgezurrt war, und ritt in die Nacht hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.
Mir war kalt, aber nicht wegen des Nachtwindes.
Die Kälte k am aus meinem Herzen. Ich wußte, genau wie Ourida, daß wir uns nicht wiedersehen würden.
27. KAPITEL
Vergangenheit und Gegenwart
on einem Augenblick zum anderen wich die kalte V Wüstennacht einem warmen Tag, aber ich wehrte mich dagegen. Meine Liebe zu Ourida machte es unerträglich. Jene Zeit und jenen Ort zu verlassen bedeutete, die Geliebte endgültig zu verlieren. Ich spürte noch den Stich, den unser Abschied meinem Herzen versetzt hatte, eben erst, und doch war es sechs Jahrhunderte her.
Dabei war mir bewußt, daß die Trennung eine endgültige gewesen war, hatte ich doch schon einmal erlebt, wie jene Nacht endete – mit meinem Tod.
Deutlich sah ich Gilbert d’Alamar und seine Ordensbrüder in ihren schwarz-weißen Mänteln mit dem doppelten Kreuz vor mir. Ich sah mich gegen sie kämpfen, nicht um mein Leben, sondern um einen Vorsprung für Ourida. Ich hörte das Klirren der aufeinan-dertreffenden Schwerter, die Schreie der Männer, den Hufschlag der Pferde. Und ich spürte die Klingen, die wieder und wieder in meinen Leib fuhren und das Leben aus mir herausschnitten.
Wer konnte schon von sich behaupten, daß er seinen eigenen Tod erlebt hatte und dennoch am Leben war?
Ich war nicht sicher, ob das Schicksal mich begünstigte oder quälte. Ouridas Verlust war eine unsagbare Pein, und doch hatte ich auch Glück, hatte ich sie doch nach Jahrhunderten wiedergetroffen, in einem neuen Leben.
So viele Seltsamkeiten, so viele Fragen! In meinem Kopf schwirrte es wie in einem Hornissennest, und Schwindel ergriff von mir Besitz. Aber war das ein Wunder, wenn Vergangenheit und Gegenwart sich auf solche Weise vermischten? Wenn man von dem Vergangenen nicht nur hörte oder las, sondern es erlebte ?
Mir wurde übel. Ich drehte mich zur Seite und übergab mich.
»War es zuviel für dich, Musâfir?« fragte eine tiefe, sanfte Stimme.
Jussuf, der Scheik der Abnaa Al Salieb, beugte sich besorgt über mich.
Ich riß ein Grasbüschel aus und wischte mir den Mund ab, um ihn anschließend mit etwas Wasser aus dem Rinnsal auszuspülen. Dabei hielt der Scheik mich an den Schultern wie ein Vater, der den kranken Sohn stützt. Ich spürte eine seltsame Vertrautheit zwischen uns, obwohl wir einander erst seit wenigen Tagen kannten. Ich trank noch von dem Wasser, bevor ich mich wieder an den Palmenstamm lehnte.
Jussuf griff nach einem herabgefallenen Palmwedel und fächerte mir damit Luft zu. »Ich mache mir große Vorwürfe. Du bist zu lange in der Vergangenheit gewesen, hast zuviel erlebt für die wenigen Stunden, die wir hier sind. Ich hätte mehr Rücksicht auf deinen geschwächten Zustand nehmen sollen.«
»Es geht schon wieder, nur noch einen Augenblick«, sagte ich und blickte zur Sonne auf.
Sie war ein gutes Stück nach Westen gewandert, und die Palmen warfen lange Schatten. Bald würde der Abend über das Tal der Abnaa Al Salieb hereinbrechen.
Jussuf hatte meinen Blick bemerkt. »Wir sollten jetzt ins Lager zurückkehren und etwas essen. Das wird uns beiden guttun.«
Ich ging darauf gar nicht ein, sondern fragte: »Wie hast du das gemacht, Jussuf? Wie hast du mich in die Vergangenheit versetzt?«
» Gemacht habe ich gar nichts. Ich war dir lediglich eine Unterstützung. Alles war in dir und hat nur eine Hilfe gebraucht, einen Antrieb.«
»Ich dachte, du
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