Das Wahre Spiel 01 - Der Königszug
heißer. Es mangelte nicht an Macht, doch die beteiligten Körper wurden zusehends schwächer. Himaggery schlug wieder den Gong, und die Schleusentore unter dem Boden schlossen sich polternd.
»Eßt«, befahl der Zauberer. »Schlaft. Geht im Garten spazieren. Wir treffen uns morgen in diesem Saal bei Sonnenuntergang wieder.«
Er lud Seidenhand und Yarrel ein, mit ihm zusammen in seinen Gemächern zu Abend zu essen. Seidenhand überschlug sich fast mit Kommentaren und Geschnatter, wie stets.
»Ich verstehe nicht, wie das vor sich ging. Welch ein Spiel war das? Davon habe ich noch nie gehört.«
»Kein Spiel, Heilerin. Wir spielen nicht. Wir suchen eine Wirklichkeit, eine Wahrheit. Wir haben es noch nicht oft genug versucht, um wirklich geübt darin zu sein. Außerdem haben wir es bis jetzt nur heimlich probiert – nicht wenn Unheilstifter anwesend waren. Ihr hättet bereits früher daran teilnehmen können, wenn Ihr nicht immer darauf bestanden hättet, mit Dazzle zusammenzusein.«
»Aber worum handelt es sich? Wie geht es vonstatten?«
»Um es zu begreifen, müßt Ihr erst einmal begreifen, was KETZEREI bedeutet …«
»Oh, ihr beiden und eure KETZEREI! Ich habe noch nie begriffen, was ihr eigentlich damit meint. Ihr habt nichts weiter gesagt als das, was ich schon gewußt oder tausendmal gehört habe …«
»Es gibt elf Talente«, erklärte Himaggery.
»Unsinn«, widersprach sie ihm. »Es gibt Tausende. Stehen alle im Index, jeder einzelne. Jeder Typ Spieler hat sein eigenes Talent.«
»Nein, es gibt nur elf.«
»Aber …«
»Ihr wolltet etwas wissen, also seid still und laßt mich erzählen. Es gibt nur elf, Seidenhand, zwölf, wenn Ihr die Unveränderlichen mitzählt.«
»Die Unveränderlichen besitzen kein Talent!«
»Wirklich nicht? Sie haben die Macht, immun gegen unsere Talente zu sein, unverändert zu bleiben, ganz gleich, was wir auch versuchen. Ist das kein Talent?«
»Aber so etwas meinen wir nicht, wenn wir von Talenten sprechen.«
»Nein. Aber es stimmt trotzdem. Es steht in Windlows Buch.«
»Der Index spricht von Tausenden. Ich habe alles gelernt, ihre Namen, ihre Kleidung, ihr Aussehen, wie sie ziehen, ihre Domänen, alles …«
Er wandte sich von ihr ab und blickte zu den Dunstschleiern und Obstbäumen vor dem Fenster hinaus, deren Konturen sich vermischten. »Heilerin, Euer Talent ist eines der elf. Ihr könnt die restlichen aufsagen, wenn Ihr wollt. Es sind diejenigen, die Ihr kürzlich in Windlowhaus gelernt habt.«
»Ihr meint, was Windlow über die Ersten Elf gesagt hat? Aus den Religionsbüchern? Was hat denn das damit zu tun?«
Er lachte. »Seidenhand, Ihr seid ein richtiger Kindskopf. Wißt Ihr denn nicht, daß irgendwo in dieser Welt eine Gruppe sehr mächtiger Zauberer sitzt, die man allgemein als den RAT bezeichnet? Wißt Ihr nicht, daß sie es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Ketzer in unserer Welt zu verfolgen? Jeden, der über Dinge spricht, die nicht im Index stehen? Jeden, der behauptet, die Unveränderlichen besäßen ein Talent? Ihr seid so naiv. Hier können wir über alles reden. Hier, in der Leuchtenden Domäne, seid Ihr sicher. Aber Ihr werdet es mir nicht danken.
Windlow hat es als erster herausgefunden, vor langer, langer Zeit, und es mir beigebracht, ganz heimlich, um nicht die Aufmerksamkeit der Wächter auf sich zu ziehen, der Wächter des RATS, die darauf bestehen, daß alles beim alten bleibt. Windlow war es, der begriff, daß die Religionsbücher eigentlich Geschichtsbücher sind, daß das, was darin über unsere Vorfahren steht, wirklich geschehen ist.
Man erzählt uns von Didir, dem Dämon. Nun, Seidenhand, Yarrel, stellt euch einmal eine Welt vor, in der es überhaupt keine Talente gibt. Dir, Yarrel, dürfte das leichtfallen. Stell dir eine Welt voller Bauern vor. Ohne Kraft außer der ihrer Muskeln und Stimmen, Überzeugungen und Hiebe. Nichts weiter. Vielleicht noch die Macht der Intelligenz. Windlow und ich sind uns darüber noch nicht einig.«
»Es muß sie geben«, sagte Yarrel. »In Intelligenz liegt Macht. Ich weiß es. Ich kann mir diese Welt vorstellen.«
»Sehr gut. Nun stellt euch vor, daß in dieser Welt eine Frau geboren wird, die die Gedanken der anderen lesen kann. Didir. Warum nennen wir diejenigen, die Gedankenleser, Dämonen? Mmmh? Wir nennen teuflische Gottheiten Dämonen oder böse Geister. Warum also heißt ein GEDANKENLESER Dämon?«
»Weil man glaubte, es handle sich um einen bösen Geist, eine teuflische Macht«,
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