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Das Wahre Spiel 01 - Der Königszug

Das Wahre Spiel 01 - Der Königszug

Titel: Das Wahre Spiel 01 - Der Königszug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sheri S. Tepper
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Er mit dem stählernen, massigen Körper, den muskulösen Armen. Er mit dem haarigen Nacken, den ausgebuchteten Schultern, dem flachem Schädel und den schmalen Augen, die durch die halbe Kapuze spähten, schwer die Füße, klapp, klapp, die Fußsohlen, wenn sie die Steine berührten, die Kante eines Fußnagels, der sich mit dumpfen Schmerz ins Fleisch bohrte, die aufgeplatzte Haut am Knöchel der rechten Hand, die Erinnerung an den Geschmack der morgendlichen Grütze, die von klobigen gelben Zähnen zermahlen wurde, meine Zunge, die nach dem zerbrochenen Zahn suchte, den ich einem Opfer verdankte, das mit einem Stein nach mir geschlagen hatte, nicht wie dieser Junge hier, dieses Kind, das nicht eine Minute auf der Streckbank aushielte, sondern wie ein gekochtes Huhn auseinanderfiele … er, der sich umdrehte, um das Opfer anzusehen, um sich selbst wie in einem Spiegel zu erblicken, sich selbst, wie er sich riesig im Korridor erhob, und den Schlag zu spüren, mit dem die Fackel auf seine Augenbraue traf, den eisernen Ring, der seine Gedanken zerschmetterte, sein Leben. Dann befand sich nur noch einer von uns beiden lebend im Korridor, und einer von uns beiden war tot, doch beide waren wir dieselben, dieselben.
    Erst als ich meine Hand sah, die die entwendete. Fackel hielt, begriff ich, daß etwas geschehen war, erst als ich mein Gesicht sah, das sich in der eisernen Platte über dem Guckloch einer Zellentür spiegelte, erst dann begriff ich, was geschehen war. Es stimmte. Ich besaß ein Talent. Ich hatte es von Mavin Vielgestalt geerbt, von der man behauptete, sie könne eine andere menschliche Gestalt als die ihre annehmen. O ja. Das konnte sie. Genauso wie ich.
    Und nicht nur die Gestalt. Vor mir lagen, offen wie die Seiten eines Buches, alle Gedanken dieses Morgens, der Name des Mannes, Gesichter derer, die er kannte, die Burg, als wäre sie auf einer Karte aufgezeichnet. Ich versuchte mich an mehr zu erinnern, an seine Kindheit, seine Eltern, fand aber nichts. Nur verschwommene, unzusammenhängende Gedanken, eine nötige Bürde für ein paar Stunden, Namen, Orte, Gesichter, die eigene Arbeit. Ich hatte mit Vorfreude an das Kommende gedacht, ich, der Ausplauderer. Ich, Peter, hatte mich davor gefürchtet. Was nun? Wir beide hielten uns immer noch im Korridor auf, einer tot, der andere lebendig.
    Nun, ich befand mich in Sicherheit, solange sie mich für den Ausplauderer hielten, einen gewissen Grimpt. Also durften sie den anderen, den wahren Grimpt, nicht finden. Ich packte den Körper unter den Achseln und schleifte ihn den Korridor hinunter. Die Erinnerungen, die ich gemeinsam mit dem fremden Körper übernommen hatte, reichten aus, um mir die Richtung zu weisen. Der Folterkeller lag vor uns, die Kerkerzellen mit den Falltürgruben, wo Körper für lange Zeit versteckt oder für immer vergessen werden konnten. Bevor ich mich des Ausplauderers entledigte, überprüfte ich noch einmal meine Gestalt, weil etwas … ja, etwas stimmte nicht. Die Kleidung. Ich besaß zwar Grimpts Gestalt, hatte aber nicht seine Kleidung übernommen. Meine eigene hing in Fetzen an mir, die Hosennähte aufgeplatzt durch den plötzlichen Auswuchs von Fleisch. Ich streifte sie ab und entkleidete Grimpt, um seine Kleidung anzuziehen. Die Blutflecken darauf kümmerten mich nicht. Es gab auch ältere, die bereits zu braunen Krusten getrocknet waren. Augenscheinlich gehörte das ebenfalls zum Kostüm des Ausplauderers. Ich vergaß auch nicht, die Kräuter mitzunehmen, die Windlow mir gegeben hatte. Es waren nur noch wenige übrig, doch sicher genug für eine weitere Verwandlung, überlegte ich, und später würde ich es vielleicht auch ohne sie schaffen.
    Los! ermutigte ich mich selbst. Du hast später noch genügend Zeit nachzudenken. Bring dich zuallererst in Sicherheit. Der tote Grimpt verschwand in der Falltürgrube. Der lebendige Grimpt begab sich den Korridor zurück bis zu einer Stelle, von wo aus er die Wache vor Peters Zellentür rufen konnte.
    »He, du dort, Bossel oder wie du heißt … Mach dich auf und hol uns einen Krug Bier aus der Küche. Derweil bring ich, was von dem hier übriggeblieben ist, ins Bett zurück. Geh schon, die Arbeit macht durstig.« Der Mann war nur ein einfacher Wächter in einem verrosteten Kettenhemd, mit wenig mehr Talent als ein Bauer, ein Flückelmann vielleicht. Er öffnete den Mund, um zu widersprechen, entschied sich aber dagegen und lehnte seine Waffe gegen die Mauer, um rasselnd die Treppe

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