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Das Wahre Spiel 03 - Das dreizehnte Talent

Das Wahre Spiel 03 - Das dreizehnte Talent

Titel: Das Wahre Spiel 03 - Das dreizehnte Talent Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sheri S. Tepper
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den richtigen Ton, denn ihre Tränen begannen zu fließen, in dem gleichen unaufhörlichen Strom, den wir bereits vor kurzem erlebt hatten.
    »Wird je einer von uns so weit kommen? Das Leben in Vorboldhaus ist so angenehm. Muß ich es unbedingt in den Klauen eines Ghuls verlieren oder im Spiel von irgendeinem Waffenträger in den Rücken geschossen werden? Wenn ich an alle diejenigen denke, die ich als Kind kannte … wie wenig sind davon übriggeblieben. Wie wenig …«
    Daraufhin konnte ich sie nur im Arm halten, bis sie einschlief, mich dann selbst in meine Decken wickeln und das gleiche tun, die ganze Zeit über Jinians Schweigen gewahr, die in ihren eigenen Decken auf der anderen Seite des Feuers lag. Ich wußte, daß sie jedes Wort gehört hatte. Und am nächsten Morgen sagte sie es uns auch.
    »Ich wollte nicht lauschen«, sagte sie und wurde ein bißchen rot. »Aber ich habe scharfe Ohren und auch ein scharfes Verständnis für das, was um mich herum geschieht. Wir alle fühlen uns schrecklich traurig, verloren und einsam. Dieses Gefühl begann, nachdem wir gestern diesem Was-auch-immer begegnet sind. Wir sollten nicht den Fehler begehen zu glauben, diese Gefühle kämen von uns selbst.«
    In diesem Augenblick klang sie fast wie Himaggery. Ich war erstaunt.
    Seidenhand schüttelte sich wie ein Flußtier, das aus dem Wasser steigt, ein heftiges, kurzes Schleudern, um die schwere Nässe abzuschütteln. »Du hast recht, Jinian. Immer gut, wenn die Lehrerin auch einmal etwas von der Schülerin lernt. Ja, es ist zweifellos klug und aufmerksam von dir, und gut, daß du es uns so offen sagst. Ich bin nämlich schon dabei, mich in meinem eigenen Unglück aufzulösen.«
    »Du, Peter und ich«, sagte Jinian, schenkte sich mehr Apfelwein ein und nahm einen weiteren knusprigen Weizenkeks aus dem Korb, »fühlen das Gleiche, aber ich weiß, daß mein einziger Grund zur Traurigkeit darin besteht, daß ihr plant, etwas zu unternehmen, an dem ich keinen Anteil habe, daß ihr ohne mich zu einem Abenteuer aufbrechen wollt. Also, ich habe beschlossen, daß ich euch nicht ohne mich ziehen lassen werde. Ich habe deine Geschichte gehört, Peter, das Buch gelesen, euren Wind gefühlt, die Musik vernommen. Ich weiß von allem genauso viel wie ihr. Ich lasse nicht zu, daß ich ausgeschlossen werde.«
    »Aber König Kelver wird in Reavebrücke auf dich warten«, warf Seidenhand ein.
    »Wenn schon«, sagte Jinian. »Soll er doch.« Mehr sagte sie nicht dazu, obwohl Seidenhand im Laufe des Morgens mehrmals mit ihr darüber zu sprechen versuchte.
    Den ganzen Tag über warteten wir darauf, daß etwas passieren würde, eine neuerliche Stille, eine neuerliche Stimme. Nichts. Wir ritten im warmen Sonnenschein, kauften unser Mittagsmahl bei einer Bäuerin – frisches Gemüse, Eier und sonnenwarmes, frisch gepflücktes Obst – und erreichten schließlich bei Einbruch der Dämmerung den Knochenfluß. Wir waren eingestaubt und schmutzig, und dem bernsteinfarbenen Wasser, das in endlosen Strähnen über die Kiesel floß, konnte man einfach nicht widerstehen. Im Nu waren wir mittendrinnen, nur mit der Unterwäsche bekleidet, schütteten das Wasser mit den Händen über uns und schrubbten den festgebackenen Schmutz ab, als es geschah.
    Zuerst wurde es still. Das Geplätscher des Flusses verklang. Das Gezwitscher der Vögel wurde leiser, verstummte. Dann der Teil einer Melodie, ganz zart, fast unhörbar, verhallend, gerade noch mit dem Ohr wahrnehmbar. Verwandter, hilf.
    An der Stelle, wo wir uns befanden, nahm der Fluß einen weiten Bogen zuerst in östlicher, dann in westlicher Richtung, bevor er wieder nach Norden floß. Wir waren nahe dem Ufer und sahen hinüber zu der glitzernden Linie des Sonnenuntergangs unter dem ergrauenden honigfarbenen Glühen des Himmels. Vor diesem Himmel bewegte sich der Schatten eines Mannes, bewegte sich, wie sich eine Wolke bewegen mochte, wenn ein steter Wind bläst, veränderte sich, wie sich eine Wolke verändert. Die Zeit blieb für uns stehen. Wir beobachteten ihn vor dem bernsteinfarbenen, dem rosigen, dem violetten Grau, eine riesige verschwimmende Form, die den Himmel ausfüllte, bis die Sterne durch den Kopf schienen, während sich die Beine und die Arme in gequälter Bewegung hoben und senkten, einen Schritt nach dem anderen, langsam, langsam, unaufhörlich über die unerbittliche Erde nach Norden. Der Umriß des Geschöpfes zerfaserte sich in Nebelfetzen, Fetzen, die sich zusammenfügten und wieder

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