Das Wahre Spiel 03 - Das dreizehnte Talent
auseinanderfielen, wieder und wieder, zusammengehalten von einem unvorstellbaren Willen, einem fernen träumenden Geist, der sich in Form und Bewegung ausdrückte. Dieser Gedanke kam uns allen gleichzeitig, als wir uns in die Richtung wandten, in der das Geschöpf ging, dem Norden zu, und auf die Gegend hinter dem Fluß Reave zu den mächtigen Steilhängen des Waenbane hinstarrten.
»Ein Gott«, flüsterte Seidenhand.
Das glaubte ich nicht. Oder nicht ganz. Irgend etwas sicher, das jenseits meines Vorstellungsvermögens lag und mir doch gleichzeitig so vertraut vorkam, daß ich meinte, es fast wiedererkennen zu können oder wissen müßte, was es war – wer es war. Etwas Tragisches, Jammervolles umgab es, trotz seiner ungeheuren Größe. Wir schwiegen ehrfurchtsvoll während der langen Zeit, die die Dunkelheit brauchte, um es zu verbergen. Dann …
»Gehen wir dorthin?« wollte Jinian wissen. »Wo es auch hingeht? Nach Norden?«
»Peter und ich …«
»Wir alle«, sagte Jinian. »Ich lasse nicht zu, daß ich zurückbleibe, Seidenhand. Um nichts in der Welt.«
»König Kelver …«
»Die Teufel sollen König Kelver holen! Ich werde mein ganzes Leben damit verbringen, ein Bündnis für König Kelver zu knüpfen, sein Bett zu wärmen, ihm Kinder zu gebären, aber nicht, bevor ich nicht etwas für mich selbst getan habe. Ich gehe mit euch.«
Sie fegte Seidenhands Einwände beiseite, als wären sie Spinnweben ohne Bedeutung. Ich mußte ein Lachen unterdrücken, als ich sie beobachtete, so halsstarrig und unabhängig, mit dem festen Willen, nicht ausgeschlossen zu werden. Oh, ich konnte dieses Gefühl, aus dem Leben anderer ausgeschlossen zu sein, nur zu gut verstehen. »Laß gut sein, Seidenhand«, sagte ich. »König Kelver wird sicher warten können.«
»Er will uns in Reavebrücke treffen«, entgegnete Seidenhand, offensichtlich verärgert. »Er wird nicht erfreut sein. Und dein Bruder wird auch nicht erfreut sein, Jinian. Ich habe schon von Waffenträger Mendosts Wutanfällen gehört.«
»Überlaß Mendost mir«, sagte Jinian. »Er weiß, wie weit er mich zwingen kann und wie weit nicht. Er hat keine weiteren Schwestern, aber ich habe noch mehr Brüder, die mich lieben und mit Mendost nicht auf bestem Fuße stehen. Sie kennen seine Wutanfälle auch und haben genug Gründe, ihn zu vernichten, falls er sich uneinsichtig zeigt.«
Aha, dachte ich, sie ist also doch nicht so manipulierbar, wie ich vermutet hatte. Und das brachte mich auf andere Gedankengänge und dazu, mich weiter über Jinian zu wundern, so daß ich den Riesen und die Geheimnisse, die unsere Reise umgaben, im Augenblick vergaß, und mich erst wieder daran erinnerte, als wir uns angezogen hatten und uns um unser Feuer versammelten, dann aber auch nur, um den gestirnten Himmel abzusuchen und mich zu fragen, ob die nebelhafte Gestalt immer noch unter seinem Mantel nach Norden wanderte oder ob sie auf einem hohen, fernen Platz Ruhe gefunden hatte – und in welcher Form. Jinian saß mir mit überkreuzten Beinen am Feuer gegenüber, über das kleine Buch geneigt, um das Licht der Flammen auszunutzen. Sie war so tief darin versunken, daß ich sie zweimal ansprechen mußte, bevor sie mich hörte.
»Was hast du denn entdeckt, Schülerin? Du siehst aus wie ein frischgebackener Thaumaturg, der sorgsamst den Index studiert, um sein Lebensmuster zu finden.«
Sie dachte lange darüber nach, bevor sie mir antwortete. »Das ist gar nicht so falsch, Peter. Ich nehme das, was du mir erzählt hast und das, was in diesem Buch steht und was ich gesehen und gehört habe und versuche, alles zusammenzufügen, mir ein Bild zu machen.«
»Eine Hypothese«, sagte ich. »So nannte es Windlow. Eine Hypothese, eine Vorstellung, die vielleicht wahr ist.«
»Ja.« Sie gluckste, eine kleine Blase der Erheiterung. »Obwohl ich es mir mehr wie einen Eintopf vorgestellt habe. Ein bißchen hiervon und ein wenig davon, alles in meinem Kopf vor sich hinsiedend, langsam köchelnd, so daß erst eines an die Oberfläche kommt und dann das nächste, während der Dampf hochsteigt und der Geruch in meine Nase.« Sie schnüffelte mir mit dieser Nase zu, was mich an ein zahmes Bunwit denken ließ. »Ein leckerer Eintopf, Peter. Oh, ich freue mich so darauf, nach Norden zu gehen und zu sehen, was sich dort befindet!«
»Das Lied sprach von Gefahr, Jinian. Du bist wegen mir bereits schon einmal in Lebensgefahr geraten.«
»Stimmt, aber das war auf eine gruselige Weise aufregend«,
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