Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
lässt, ist dabei zu spüren. Blue Gamma hatte damals entschieden, den Digis kein Gefühl für die eigene Intimsphäre mitzugeben – es schien für das Produkt nicht sinnvoll –, aber welche Bedeutung hat körperliche Intimität, wenn dafür keinerlei Grenzen überwunden werden müssen? Ana hegt keinen Zweifel, dass man ein Digi mit der Reaktion einer Erregung ausstatten könnte, die der eines Menschen so ähnlich wäre, dass bei beiden Beteiligten die Spiegelneuronen ansprängen. Aber könnte Binary Desire ein Digi die Verletzlichkeit lehren, die zur Nacktheit gehört, und könnte ein Digi je begreifen, was man ausdrückt, wenn man in Gegenwart eines anderen freiwillig nackt ist?
Aber vielleicht ist das alles gar nicht so wichtig. Noch einmal spielt Ana die Aufnahme der Videokonferenz ab und hört zu, wie Chase sagt, es handle sich um eine neue Form von Sex. Es ist nicht wie Sex mit einem anderen Menschen, und vielleicht wird es eine andere Form der Intimität mit sich bringen.
Sie erinnert sich an einen Vorfall aus ihrer Zeit im Zoo, als einer der weiblichen Orang-Utans starb. Alle waren sehr traurig, aber der Lieblingstrainer der Orang-Utan-Frau war besonders untröstlich. Schließlich gestand er, Sex mit ihr gehabt zu haben, und kurz darauf warf der Zoo ihn hinaus. Natürlich war Ana schockiert, aber umso mehr, weil er nicht so abartig und pervers war, wie sie sich einen Zoophilen vorgestellt hatte; sein Schmerz war so tief und echt wie bei jedem Mann, der eine Geliebte verliert. Er war außerdem einmal verheiratet gewesen, was sie überraschte; sie war davon ausgegangen, dass diese Leute keine Chance bei Frauen hatten, doch dann wurde ihr klar, dass sie dem Klischee über Tierpfleger auf den Leim gegangen war: der Annahme, sie würden nur deshalb Zeit mit Tieren verbringen, weil sie mit Menschen nicht zurechtkämen. Wie damals schon versucht Ana nun für sich zu ergründen, weshalb nichtsexuelle Beziehungen mit Tieren gesund sein können, sexuelle hingegen nicht; wieso das beschränkte Einverständnis, das Tiere uns geben können, für Tierhaltung ausreicht, nicht jedoch für Sex mit ihnen. Wieder kann sie keine Erklärung formulieren, die nicht auf ihrem persönlichen Widerwillen basiert, und sie ist sich nicht ganz sicher, ob das als Grund ausreicht.
Was die Frage angeht, ob Digis untereinander Sex haben sollen, so ist dieses Thema schon früher diskutiert worden, und Ana war immer der Meinung, ihre Besitzer sollten dankbar sein, sich diese ganze Problematik ersparen zu können – in der Zeit der sexuellen Reife werden viele Tiere schwierig. Nicht einmal mit den Gewissensbissen, die sie bei einer Kastration von Jax wohl hätte, muss sie sich herumschlagen, denn Ana enthält ihm keinen fundamentalen Teil seiner Natur vor. Aber jetzt gibt es eine Diskussion im Forum, die sie die Angelegenheit neu überdenken lässt:
VON: Helen Costas
Die Vorstellung, dass jemand mit meinem Digi Sex haben könnte, gefällt mir zwar nicht, aber andererseits weiß ich noch, dass auch Eltern nie daran denken wollen, dass ihre Kinder Sex haben könnten.
VON: Ana Alvarado
Der Vergleich hinkt. Eltern können ihre Kinder nicht daran hindern, sexuelle Wesen zu werden, wir dagegen können das bei den Digis durchaus. Es gibt keine Notwendigkeit, weshalb Digis diesen Teil des Menschseins simulieren sollten. Man sollte es mit der Vermenschlichung nicht zu weit treiben.
VON: Derek Brooks
Was heißt denn schon Notwendigkeit? Es war auch nicht notwendig, Digis einnehmende Persönlichkeiten und niedliche Avatare zu verpassen, aber es gab einen guten Grund dafür: Es wurde dadurch wahrscheinlicher, dass die Menschen Zeit mit ihnen verbrachten, und das war gut für die Digis.
Ich will damit nicht sagen, dass wir das Angebot von Binary Desire annehmen sollten. Aber wir sollten uns meiner Meinung nach Folgendes fragen: Wenn wir die Digis zu sexuellen Wesen machen, wäre das für andere Menschen ein Anreiz, sie zu lieben, auf eine Weise, die ihnen zugutekäme?
Ana fragt sich, ob Jax durch seine Asexualität wertvolle Erfahrungen entgehen. Ihr gefällt es, dass Jax menschliche Freunde hat, und sie will Neuroblast nach Weltenraum portieren lassen, damit er diese Beziehungen pflegen und intensivieren kann. Aber wie weit dürfte diese Intensivierung gehen? Wie eng könnte eine Beziehung sein, bevor Sex zum Thema würde?
Später am Abend postet sie eine Antwort auf Dereks Kommentar:
VON: Ana Alvarado
Derek stellt da eine interessante
Weitere Kostenlose Bücher