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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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multiplizieren könnte, um ein Ergebnis ungleich null zu erhalten; aus diesem Grund gilt das Ergebnis einer Division durch null buchstäblich als »nicht definiert«.
    1a
    Renee sah gerade aus dem Fenster, als Mrs. Rivas sie ansprach.
    »Sie gehen schon wieder, nach nur einer Woche? Sie waren ja kaum richtig da. Ich bleibe noch lange hier, das steht fest.«
    Renee rang sich ein höfliches Lächeln ab. »Ich bin sicher, bei Ihnen dauert es nicht mehr lange.« Mrs. Rivas war die Intrigantin auf der Station. Jeder wusste, dass nichts dahintersteckte, wenn sie mal wieder einen ihrer Versuche startete, aber die Pfleger behielten sie ein wenig im Auge, damit sie nicht rein zufällig einmal damit Erfolg hatte.
    »Ha. Die wollen hier, dass ich gehe. Wissen Sie, was die für Scherereien mit der Versicherung haben, wenn man während des Aufenthalts stirbt?«
    »Ja, das weiß ich.«
    »Was anderes kümmert die nicht, das ist sonnenklar. Immer geht es nur um Geld …«
    Renee klinkte sich aus und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Fenster zu. Sie beobachtete einen Kondensstreifen, der sich über den Himmel zog.
    »Mrs. Norwood?«, rief eine Krankenschwester. »Ihr Mann ist da.«
    Renee schenkte Mrs. Rivas erneut ein höfliches Lächeln, dann ging sie.
    1b
    Carl unterschrieb noch einmal, und dann nahm die Krankenschwester endlich die Formulare mit, damit es weitergehen konnte.
    Er erinnerte sich daran, wie er Renee in die Klinik gebracht hatte, und dachte an all die Standardfragen beim ersten Gespräch. Er hatte sie mit stoischer Ruhe beantwortet.
    »Ja, sie ist Mathematikprofessorin. Sie steht im Who is Who .«
    »Nein, ich bin Biologe.«
    Und:
    »Ich hatte eine Schachtel mit Objektträgern zu Hause vergessen, die ich für meine Arbeit brauchte.«
    »Nein, das konnte sie nicht wissen.«
    Und genau, wie er erwartet hatte:
    »Ja, das stimmt. Vor etwa zwanzig Jahren, während meines Studiums.«
    »Nein, ich wollte springen.«
    »Nein, ich kannte Renee damals noch nicht.«
    Und immer so weiter.
    Schließlich hatten sie sich davon überzeugt, dass er in der Lage war, sich um Renee zu kümmern, und einer Entlassung zugestimmt, damit sie ambulant weiterbehandelt werden konnte.
    Im Rückblick war Carl auf abstrakte Weise überrascht. Abgesehen von einem einzigen Augenblick hatte es während der qualvollen Prozedur nie so etwas wie ein Déjà-vu gegeben. Während der ganzen Zeit, in der er sich mit dem Krankenhaus, den Ärzten und den Schwestern hatte auseinandersetzen müssen, hatte er sich nur innerlich taub und von der zähen Routine gelangweilt gefühlt.
    2
    Es gibt einen bekannten »Beweis«, dass eins gleich zwei ist. Er beginnt mit ein paar Definitionen: »Es sei a =1 und b =1«; und endet mit der Schlussfolgerung »a = 2a«, also ist eins gleich zwei. Inmitten des Beweises ist unauffällig eine Division durch null versteckt, und von da an verliert der Beweis den Boden unter den Füßen, und alle Regeln werden null und nichtig. Erlaubt man die Division durch null, kann man damit nicht nur beweisen, dass eins gleich zwei ist, sondern auch, dass überhaupt alle Zahlen – seien sie real oder imaginär, rational oder irrational – gleich sind.
    2a
    Als sie und Carl zu Hause waren, ging Renee sofort in ihr Arbeitszimmer, drehte alle Papiere auf ihrem Schreibtisch um und schob sie, ohne hinzusehen, zu einem Haufen zusammen. Wann immer die Ecke eines Blattes dabei durch Zufall umknickte, sodass Renee die beschriebene Seite sah, zuckte sie zusammen. Kurz erwog sie, die Papiere zu verbrennen, doch das wäre inzwischen nur noch ein symbolischer Akt gewesen. Genauso gut konnte sie einfach nie wieder einen Blick darauf werfen.
    Die Ärzte hätten es wahrscheinlich als zwanghaftes Verhalten bezeichnet. Renee runzelte die Stirn, als sie sich daran erinnerte, wie entwürdigend es war, die Patientin solcher Dummköpfe zu sein. Wegen Selbstmordgefahr hatte man sie in die geschlossene Abteilung gesteckt, wo die Pfleger sie rund um die Uhr hatten bewachen sollen. Und sie erinnerte sich an die Gespräche mit den Ärzten, die so herablassend, so durchschaubar gewesen waren. Renee war zwar nicht manipulativ wie Mrs. Rivas, aber es war ganz leicht. Man musste einfach nur sagen: »Ich weiß, dass es mir noch nicht gut geht, aber ich fühle mich schon besser«, und schon galt man als nahezu reif für die Entlassung.
    2b
    Einen Augenblick lang beobachtete Carl Renee von der Tür aus, dann ging er weiter durch den Flur. Er wusste noch, wie er selbst

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