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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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ein. Willoughby begutachtete die Form und fragte: »Haben Sie ihm das selbst beigebracht?«
    »Ja. Ich möchte ihn von Moore im Metallguss unterrichten lassen.«
    »Haben Sie Namen, die andere Dinge lernen können?«
    »Noch nicht. Aber ich habe allen Grund zu der Annahme, dass es eine ganze Klasse ähnlicher Namen gibt – je ein Name für jede Kunst, bei der manuelle Geschicklichkeit vonnöten ist.«
    »Tatsächlich?« Willoughby merkte, dass die anderen Bildhauer zuhörten, und rief laut: »Wenn ihr nichts zu tun habt, kann ich euch reichlich Arbeit zuteilen.« Sofort nahmen die Gesellen ihre Arbeit wieder auf, und Willoughby wandte sich erneut Stratton zu. »Gehen wir in Ihr Büro und unterhalten uns dort weiter.«
    »Gern.« Stratton gab dem Automaten einen Wink, und dieser folgte den beiden zum vordersten der miteinander verbundenen Gebäude, aus denen die Coade-Manufaktur bestand. Sie gingen in Strattons Werkstatt, die hinter seinen Büroräumen lag. Dort wandte Stratton sich an den Bildhauer. »Haben Sie gegen meinen Automaten etwas einzuwenden?«
    Willoughbys Blick glitt über zwei Tonhände, die auf eine Werkbank gespannt waren. Dahinter hingen an der Wand ein paar schematische Zeichnungen, auf denen Hände in den verschiedensten Haltungen zu sehen waren. »Bei der Nachahmung der menschlichen Hand haben Sie bewundernswerte Arbeit geleistet. Dass Sie Ihrem neuen Automaten als Erstes die Bildhauerei beigebracht haben, erfüllt mich jedoch mit Sorge.«
    »Falls Sie befürchten, dass ich die Bildhauer ersetzen will, so ist das unnötig. Das ist keineswegs meine Absicht.«
    »Freut mich zu hören«, sagte Willoughby. »Warum haben Sie dann gerade die Bildhauerei gewählt?«
    »Das ist der erste Schritt auf einem ziemlichen Umweg. Eigentlich will ich die Herstellung automatischer Maschinen so billig machen, dass die meisten Familien ein Exemplar erwerben können.«
    Willoughbys Verwirrung war unverkennbar. »Was, bitteschön, sollte eine Familie mit einer Maschine anfangen?«
    »Zum Beispiel einen motorisierten Webstuhl antreiben.«
    »Wovon schwafeln Sie da?«
    »Haben Sie schon mal Kinder in einer Textilfabrik gesehen? Sie arbeiten bis zur völligen Erschöpfung; ihre Lungen sind verstopft vom Baumwollstaub; sie sind so kränklich, dass man sich kaum vorstellen kann, wie sie jemals das Erwachsenenalter erreichen sollen. Für die billigen Stoffe bezahlen wir mit der Gesundheit unserer Arbeiter; als Stoffe noch in Heimarbeit hergestellt wurden, ging es den Webern viel besser.«
    »Motorisierte Webstühle haben den Webern die Heimarbeit genommen. Wie sollten sie sie ihnen wieder zurückgeben können?«
    Stratton hatte bisher noch nie darüber gesprochen und nahm gerne die Gelegenheit zur Erläuterung wahr. »Die Herstellung automatischer Antriebe war immer schon kostspielig, und deshalb gibt es Fabriken, in denen ganze Reihen von Webstühlen von einem riesigen, kohlebeheizten Goliath angetrieben werden. Aber ein Automat wie meiner könnte auf äußerst günstige Weise Antriebsmotoren herstellen. Wenn ein kleiner, automatischer Antrieb, der für ein paar Maschinen ausreicht, für einen Weber und seine Familie erschwinglich wird, dann können sie wie früher zu Hause Stoffe produzieren. Die Menschen könnten ein anständiges Einkommen erzielen, ohne sich dafür den Arbeitsbedingungen in einer Fabrik aussetzen zu müssen.«
    »Sie vergessen den Preis für den Webstuhl selbst«, sagte Willoughby milde und scheinbar nachsichtig. »Motorisierte Webstühle sind wesentlich teurer als die alten Handwebstühle.«
    »Meine Automaten könnten außerdem zur Herstellung der gusseisernen Teile beitragen, was den Preis motorisierter Webstühle und anderer Maschinen senken würde. Ich weiß, dass das kein Allheilmittel ist, aber dennoch bin ich überzeugt, dass preiswerte Antriebsmotoren dem einzelnen Handwerker ein besseres Leben ermöglichen können.«
    »Es gereicht Ihnen zur Ehre, dass Sie nach Neuerungen streben. Trotzdem scheint mir, für die sozialen Missstände, die Sie ansprechen, gibt es einfachere Lösungen: weniger Arbeitsstunden oder bessere Arbeitsbedingungen. Sie müssen nicht unser gesamtes Produktionssystem zerschlagen.«
    »Meinen Vorschlag könnte man eher als Sanierung bezeichnen denn als Zerschlagung.«
    Langsam geriet Willoughby in Zorn. »Dieses Gerede über die Rückkehr zum Familienbetrieb ist ja schön und gut, aber was wird aus den Bildhauern? Ungeachtet Ihrer Absichten würden Ihre Automaten den

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