Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
entlang, der zu einem Labor führte. Dort befanden sich an einem breiten, peinlich sauberen Arbeitstisch mehrere Arbeitsplätze, jeweils mit einem Mikroskop und einer Art Messinggestell ausgestattet, bei dem man mittels dreier ineinandergreifender Rändelscheiben Feinjustierungen vornehmen konnte. An dem hintersten Arbeitsplatz blickte ein älterer Mann gerade in das Mikroskop; bei ihrem Eintreten sah er von seiner Arbeit auf.
»Mr. Stratton, ich glaube, Sie kennen Dr. Ashbourne bereits.«
Stratton war überrascht und einen Moment lang sprachlos. Nicholas Ashbourne war Dozent am Trinity College gewesen, als Stratton dort Student gewesen war, hatte jedoch schon vor Jahren gekündigt, um sich dem Vernehmen nach eher unorthodoxer Forschung zu widmen. Stratton erinnerte sich an ihn als einen der inspirierendsten Hochschullehrer. Sein Gesicht war im Alter schmaler geworden, wodurch seine hohe Stirn noch höher wirkte, doch seine Augen waren so hellwach wie eh und je. Mithilfe eines geschnitzten Gehstocks aus Elfenbein kam er zu ihnen herüber.
»Stratton, schön, Sie wiederzusehen.«
»Gleichfalls, Sir. Ich war wahrlich nicht darauf gefasst, Sie hier anzutreffen.«
»Das wird ein Abend voller Überraschungen, mein Junge. Warten Sie nur ab.« Er wandte sich an Fieldhurst. »Wollen Sie nicht anfangen?«
Sie folgten Fieldhurst zur anderen Seite des Labors, wo er eine weitere Tür öffnete und sie eine Treppe hinunterführte. »Nur sehr wenige Menschen – entweder Gelehrte der Royal Society, Mitglieder des Parlaments oder beides zugleich – sind in diese Angelegenheit eingeweiht. Vor fünf Jahren nahm die Wissenschaftliche Akademie in Paris vertraulichen Kontakt mit mir auf. Sie wollten, dass englische Wissenschaftler einige ihrer Forschungsergebnisse überprüften.«
»Tatsächlich?«
»Sie können sich ihr Widerstreben gewiss vorstellen. Doch man fand, dass die Angelegenheit schwerer wog als nationale Rivalitäten, und als ich erst einmal begriffen hatte, worum es ging, war ich ebenfalls dieser Meinung.«
Die drei Männer stiegen in einen Kellerraum hinab. An den Wänden angebrachte Gaslampen erhellten den Raum und enthüllten die gewaltigen Ausmaße des Kellergeschosses; es war durch steinerne Säulen unterteilt, die an der Decke in ein Kreuzgratgewölbe übergingen. In dem langgestreckten Raum hatte man eine Reihe von Holztischen aufgestellt, auf denen badewannengroße Behälter thronten. Die Bottiche bestanden aus Zink und waren auf allen vier Seiten mit Glasscheiben ausgestattet, durch die man die klare, schwach gelbliche Flüssigkeit im Inneren des Behälters sehen konnte.
Stratton blickte in den nächstgelegenen Bottich. Eine formlose Masse schwamm darin, so als hätte sich ein Teil der Flüssigkeit geleeartig verfestigt. Die Umrisse dieser Masse war kaum von den marmorierten Schatten zu unterscheiden, die sie auf den Boden des Behälters warf, also schritt er um den Bottich herum und ging in die Hocke, um das Gebilde vor dem Licht einer Gaslampe aus der Nähe zu betrachten. Erst da erkannte er in der klumpigen Masse die geisterhafte Gestalt eines Menschen, durchsichtig wie Aspik und in embryonaler Haltung.
»Unglaublich«, flüsterte Stratton.
»Wir nennen es einen Megafötus«, erläuterte Fieldhurst.
»Das ist aus einem Spermium gewachsen? Das muss doch Jahrzehnte gedauert haben.«
»Keineswegs, was es nur umso erstaunlicher macht. Vor einigen Jahren haben zwei Pariser Naturalisten namens Dubuisson und Gille ein Verfahren entwickelt, das bei Samen-Föten hypertrophes Wachstum auslöst. Durch schnelle Nährstoffinfusion erreicht ein solcher Fötus diese Größe innerhalb von zwei Wochen.«
Als Stratton seinen Kopf hin- und herbewegte, bemerkte er einen leichten Unterschied in der Lichtbrechung, der auf die Umrisse der inneren Organe des Megafötus hindeutete. »Ist dieses Geschöpf … lebendig?«
»Nur auf eine unbewusste Art, wie es bei einem Spermium der Fall ist. Kein künstliches Verfahren kann die Schwangerschaft ersetzen, erst das vitale Prinzip der Eizelle erweckt den Fötus zum Leben, erst der Einfluss der Mutter macht ihn zum Menschen. Uns ist es lediglich gelungen, seine Masse zu vergrößern.« Fieldhurst deutete auf den Megafötus. »Von der Mutter erhält ein Fötus auch seine Pigmentierung und sämtliche individuellen äußerlichen Merkmale. Abgesehen vom Geschlecht haben unsere Megaföten keine individuellen Eigenschaften. Jedes männliche Exemplar hat das typische Äußere, das Sie
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