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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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den Dachluken angebracht war und durch den ganzen Raum verlief. Ganz hinten stand ein Antriebsautomat: ein gusseiserner Riese, der unermüdlich das Antriebsrad drehte. Im Vorbeigehen nahm Stratton eine leichte Kühle wahr, dadurch bedingt, dass die Maschine ihrer Umgebung Wärmeenergie entzog.
    Im Nebenraum befanden sich die Gussformen. Schneeweiße Model mit den spiegelverkehrten Formen der verschiedensten Automaten standen an den Wänden aufgereiht. Mitten im Raum arbeiteten, paarweise oder allein, Handwerksgesellen in Arbeitsschürzen und bereiteten die Kokons vor, aus denen die Automaten schlüpfen sollten.
    Unweit von ihm setzte ein Bildhauer gerade die Form für einen Verlader zusammen, einen Vierfüßler mit dickem Kopf, wie sie in den Minen eingesetzt wurden, um die Handwagen mit Erz zu schieben. Der junge Mann sah auf. »Suchen Sie jemanden?«, fragte er.
    »Ich bin hier mit Master Willoughby verabredet«, antwortete Stratton.
    »Entschuldigen Sie, das wusste ich nicht. Er wird sicher gleich hier sein.« Der Geselle wandte sich wieder seiner Aufgabe zu. Harold Willoughby war ein Bildhauermeister ersten Ranges; Stratton wollte ihn um Rat fragen, wie man für seinen neuen Automaten eine wiederverwendbare Gussform anfertigen könnte. Während er wartete, schlenderte Stratton gemächlich zwischen den Gussformen umher. Sein Automat stand reglos da und wartete seinerseits auf den nächsten Befehl.
    Willoughby kam durch die Tür, die zur Metallgießerei führte, das Gesicht von der Hitze gerötet. »Bitte entschuldigen Sie die Verspätung, Mr. Stratton«, sagte er. »Wir arbeiten schon seit Wochen an einer großen Bronzeskulptur, und heute war der Guss. Bei so etwas lässt man die Jungs nicht so gern allein.«
    »Vollkommen verständlich«, erwiderte Stratton.
    Willoughby verschwendete keine Zeit und ging zu Strattons neuem Automaten hinüber. »Haben Sie Moore daran all die Monate arbeiten lassen?« Moore war der Handwerksgeselle, der Stratton bei seinem Projekt unterstützte.
    Stratton nickte. »Der Junge macht sich gut.« Moore hatte nach Strattons Anweisungen unzählige Körper angefertigt, die alle ein Grundthema variierten; ausgehend von einem Grundgerüst hatte er mit Ton weitergearbeitet und dann nach diesen Körpern Gipsabdrücke hergestellt, an denen Stratton seine Namen testen konnte.
    Willoughby musterte den Körper. »Ganz nett gemacht; sieht einigermaßen solide aus – Moment mal.« Er deutete auf die Hände des Automaten. Anstelle der üblichen Schaufel- oder Faustform mit angedeuteten Fingern, die in die Oberfläche geritzt wurden, waren diese Hände voll ausgearbeitet und hatten beide einen Daumen und vier einzelne, voneinander getrennte Finger. »Sie wollen mir doch nicht etwa sagen, dass die funktionstüchtig sind?«
    »Doch, allerdings.«
    Willoughbys Skepsis war deutlich erkennbar. »Lassen Sie sehen.«
    Stratton richtete das Wort an den Automaten. »Beuge die Finger.« Der Automat streckte beide Hände aus, beugte und streckte nacheinander jedes Fingerpaar und ließ dann wieder die Arme sinken.
    »Ich gratuliere, Mister Stratton«, sagte der Bildhauer. Er ging in die Hocke, um die Finger des Automaten aus der Nähe zu betrachten. »Damit der Name funktioniert, muss sich jedes Fingergelenk beugen lassen?«
    »So ist es. Können Sie dafür eine Dauerform anfertigen?«
    Willoughby schnalzte mehrmals mit der Zunge. »Das wird eine vertrackte Angelegenheit«, sagte er. »Womöglich geht es nicht anders als mit einer Verlorenen Form für jeden Abdruck. Schon mit einer Dauerform wäre das bei Keramik sehr teuer.«
    »Meiner Meinung nach lohnt sich der Aufwand. Erlauben Sie mir eine Vorführung.« Stratton sprach den Automaten an. »Fertige einen Abdruck an; nimm dafür die Form dort drüben.«
    Der Automat trottete zur nächsten Wand und hob die Teile der Form auf, auf die Stratton gedeutet hatte – es war die Form für einen kleinen Botenjungen aus Porzellan. Mehrere Handwerksgesellen unterbrachen ihre Tätigkeit und sahen zu, wie der Automat die Stücke zu einem Arbeitsplatz trug. Dort setzte er die verschiedenen Teile zusammen und verband sie sorgfältig mit Zwirn. Staunend verfolgten die Bildhauer die Bewegungen der Finger. Der Automat schlang die Enden des Zwirns zu einem Knoten, stellte die zusammengesetzte Form aufrecht hin und ging dann los, um einen Eimer Tonmasse zu holen.
    »Das genügt«, sagte Willoughby. Der Automat unterbrach seine Arbeit und nahm wieder seine ursprüngliche Haltung

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