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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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sich und nahm unwillkürlich die Haltung eines dozierenden Gelehrten ein. »Wissen Sie noch, wieso man davon abkam, Automaten aus Holz herzustellen?«
    Die Frage überraschte Stratton. »Man ging davon aus, dass die natürliche Holzmaserung, seine innerste Struktur, mit allem, was wir daraus schnitzen wollen, in Widerspruch steht. Derzeit gibt es Bestrebungen, Kautschuk als Gussmaterial zu verwenden, bislang jedoch ohne Erfolg.«
    »In der Tat. Aber wenn die natürliche Beschaffenheit des Holzes das einzige Hindernis wäre, müsste es da nicht möglich sein, eine Tierleiche durch einen Namen zu beleben? In diesem Fall müsste die Gestalt des Körpers doch ideal sein.«
    »Eine makabere Vorstellung; meiner Meinung nach hätte ein solches Experiment allerdings nur geringe Erfolgsaussichten. Hat man das jemals versucht?«
    »Ja, das hat man – ebenso erfolglos. Diese beiden Forschungsansätze haben sich also als fruchtlos erwiesen. Heißt das aber, dass es keine Möglichkeit gibt, organischer Materie durch die Verwendung von Namen Leben einzuhauchen? Das war die Frage, der ich nach meinem Ausscheiden aus dem Trinity College nachgehen wollte.«
    »Und was haben Sie herausgefunden?«
    Ashbourne hob abwehrend die Hand. »Sprechen wir erst einmal über Thermodynamik. Sind Sie über die jüngsten Fortschritte auf dem Laufenden? Dann wissen Sie, dass die Ausbreitung der Wärme auf thermaler Ebene eine Zunahme an Unordnung bedeutet. Durch einen Automaten, der seiner Umgebung Wärmeenergie entzieht, um sie in Arbeitsenergie umzuwandeln, nimmt diese Ordnung hingegen zu. Dies bestätigt eine von mir schon lange vertretene Theorie, nach der lexikalische Ordnung thermodynamische Ordnung erzeugt. Die lexikalische Ordnung eines Amuletts verstärkt die einem Körper bereits immanente Ordnung und schützt ihn dadurch. Die lexikalische Ordnung eines lebensspendenden Namens vergrößert die Ordnung in einem Körper und erzeugt so Antriebsenergie für einen Automaten.
    Die nächste Frage war: Wie wirkt sich ein höherer Ordnungsgrad auf organisches Material aus? Da totes Gewebe durch Namen nicht belebt wird, lässt sich die Verteilung der Wärme hier offensichtlich nicht beeinflussen; aber vielleicht kann man in organischem Material auf andere Weise Ordnung erzeugen. Bedenken Sie: Aus einem Ochsen kann man einen Bottich gallertartiger Masse machen. Die Brühe enthält dieselbe Materie wie der Ochse, doch was von beidem verkörpert ein höheres Maß an Ordnung?«
    »Der Ochse natürlich«, sagte Stratton verwirrt.
    »Natürlich. Ein Organismus verkörpert, kraft seiner physikalischen Struktur, Ordnung; je komplexer der Organismus, desto größer die Ordnung. Meine Hypothese besagte, dass man zunehmende Ordnung in organischer Materie demonstrieren könnte, indem man ihr eine Gestalt gibt. Lebendige Materie hat jedoch schon ihre ideale Gestalt. Die Frage ist: Was besitzt Leben, jedoch keine Gestalt?«
    Der ältere Nomenklator wartete Strattons Erwiderung nicht ab. »Die Antwort lautet: eine unbefruchtete Eizelle. In der Eizelle steckt das vitale Prinzip, das das durch sie entstandene Geschöpf mit Leben erfüllt, sie selbst hat aber keine Gestalt. Normalerweise nimmt die Eizelle die Gestalt des Fötus an, der in dem sie befruchtenden Spermatozoon komprimiert ist. Der nächste Schritt lag auf der Hand.« An dieser Stelle hielt Ashbourne inne und sah Stratton erwartungsvoll an.
    Dieser war ratlos. Ashbourne wirkte enttäuscht, sprach jedoch weiter. »Der nächste Schritt bestand darin, mit einem Namen das Wachstum einer Eizelle anzuregen.«
    »Aber wenn die Eizelle nicht befruchtet ist«, wandte Stratton ein, »gibt es keine Struktur, die man vergrößern könnte.«
    »Ganz genau.«
    »Sie meinen, aus einem homogenen Medium könnte Struktur entstehen? Unmöglich.«
    »Und doch war es mehrere Jahre lang mein Ziel, diese Hypothese zu beweisen. Meine ersten Experimente bestanden darin, unbefruchteten Froscheiern einen Namen einzusetzen.«
    »Wie haben Sie den Namen in das Froschei eingebracht?«
    »Eigentlich wird der Name nicht eingebracht, sondern eher mittels einer speziell dafür hergestellten Nadel eingeprägt.« Ashbourne öffnete ein Schränkchen, das zwischen zwei Mikroskopen auf einem Arbeitstisch stand. Darin befand sich ein Holzregal, in dem paarweise kleine Instrumente angeordnet waren. Sie endeten jeweils in langen gläsernen Nadeln; manche waren fast so dick wie eine Stricknadel, andere so dünn wie eine Kanüle. Ashbourne nahm

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