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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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Augen sein mögen, könnte man behaupten, sie würde Ordnung erschaffen. Obwohl alle ihre Namen auf thermaler Ebene Ordnung generieren, indem sie Wärmeenergie in Bewegungsenergie umwandeln, nutzt man die daraus resultierende Arbeit auf sichtbarer Ebene überwiegend zur Erschaffung von Unordnung.«
    »Eine interessante Betrachtungsweise«, sagte Stratton nachdenklich. »So gesehen werden manche langjährigen Defizite von Automaten verständlich: dass sie Kisten nicht ordentlicher stapeln können, als sie sie vorfinden; ihre Unfähigkeit, zerkleinertes Erzgestein nach seiner Zusammensetzung zu sortieren. Sie meinen also, die bekannten Klassen industrieller Namen seien in thermodynamischer Hinsicht nicht mächtig genug.«
    »Ganz genau!« In seiner Begeisterung wirkte Ashbourne wie ein Lehrer, der auf einen unerwartet begabten Schüler stößt. »Das ist eine weitere Eigenschaft Ihrer Klasse fingerfertiger Namen. Sie befähigen einen Automaten zu anspruchsvolleren Arbeiten und erzeugen dadurch nicht nur Ordnung auf thermaler, sondern auch auf sichtbarer Ebene.«
    »Ich sehe da eine Parallele zu Milburns Entdeckungen«, sagte Stratton. Milburn hatte die Haushaltsautomaten entwickelt, die Dinge zu ihrem Platz zurückbringen konnten. »Bei seiner Arbeit geht es ebenfalls um die Erschaffung von Ordnung auf der sichtbaren Ebene.«
    »In der Tat, und diese Parallele führt uns zu einer Theorie.« Ashbourne beugte sich vor. »Angenommen, man könnte ein Epitheton herausarbeiten, das den von Ihnen und Milburn entwickelten Namen gemeinsam ist – ein Epitheton, das die Erzeugung zweier Ordnungsebenen ausdrückt. Nehmen Sie weiter an, wir würden ein Euonym für die menschliche Spezies entdecken und wären in der Lage, dieses Epitheton in den Namen zu integrieren. Was, glauben Sie, würde durch die Aufprägung des Namens entstehen? Und wenn Sie jetzt ›Zwillinge‹ sagen, setzt es eine Ohrfeige.«
    Stratton lachte. »Ich wage zu behaupten, dass ich Sie etwas besser verstehe. Sie meinen, ein Epitheton, das in der Lage wäre, im anorganischen Bereich zwei Ebenen thermodynamischer Ordnung zu erzeugen, könnte im organischen Bereich zwei Generationen erschaffen. Ein solcher Name könnte womöglich männliche Wesen hervorbringen, deren Spermatozoen vorgeformte Föten enthalten. Diese Männer wären fruchtbar, wenngleich alle ihre Söhne wiederum steril wären.«
    Sein Lehrmeister applaudierte. »Genau: Ordnung, die Ordnung hervorbringt! Ein interessantes Gedankenspiel, finden Sie nicht? Das würde die Zahl der medizinischen Eingriffe halbieren, die zur Erhaltung unserer Rasse notwendig wären.«
    »Und wie steht es mit der Erzeugung von mehr als zwei Fötengenerationen? Welche Fähigkeiten müsste ein Automat besitzen, damit sein Name ein solches Epitheton enthielte?«
    »Ich fürchte, die Wissenschaft der Thermodynamik ist nicht weit genug fortgeschritten, um diese Frage zu beantworten. Wie würde sich eine noch höhere Ebene der Ordnung im anorganischen Bereich manifestieren? Kooperierende Automaten vielleicht? Wir wissen es noch nicht, aber vielleicht werden wir es irgendwann herausfinden.«
    Stratton stellte eine Frage, die ihm vor Kurzem gekommen war. »Dr. Ashbourne, als Sie mich Ihrer Gruppe vorstellten, erwähnte Lord Fieldhurst die Möglichkeit, dass infolge von Naturkatastrophen neue Arten entstehen könnten. Ist es möglich, dass ganze Arten durch Nomenklatur entstanden sind?«
    »Ah, jetzt betreten wir das Reich der Theologie. Für eine neue Spezies müssen deren jeweilige Vorfahren eine riesige Zahl an Nachkommen in ihren Geschlechtsorganen beherbergen. So etwas verkörpert den höchsten Grad an Ordnung, der überhaupt vorstellbar ist. Ist ein rein physikalischer Prozess in der Lage, einen derart gewaltigen Grad an Ordnung hervorzubringen? Bisher konnte kein Naturforscher einen Mechanismus beschreiben, der dazu imstande wäre. Andererseits wissen wir zwar, dass ein lexikalischer Vorgang Ordnung erzeugen kann, für die Erschaffung einer völlig neuen Spezies wäre jedoch ein unvorstellbar mächtiger Name vonnöten. Gut möglich, dass eine derartige Beherrschung der Nomenklatur gottgleiche Fähigkeiten erfordert; vielleicht ist das sogar Teil der Definition.
    Auf diese Frage werden wir die Antwort womöglich nie erhalten, Stratton, aber wir dürfen uns bei unserem derzeitigen Vorgehen davon nicht beeinflussen lassen. Ob für die Erschaffung unserer Spezies nun ein Name verantwortlich war oder nicht – ich glaube, für

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