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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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empfahl sich Roth.
    Stratton seufzte.
    Stratton spähte durch das Okular des Mikroskops und drehte an dem Rädchen der Halterung, bis die Nadel auf die Eizelle drückte. In der Zellwand bildete sich eine Einstülpung, ähnlich der Reaktion einer Schnecke, deren Sohle man reizte, und das kugelförmige Gebilde verwandelte sich in einen winzigen Fötus. Stratton zog die Nadel vom Objektträger zurück, löste sie aus der Vorrichtung und setzte eine neue ein. Anschließend legte er den Objektträger in einen warmen Inkubator und platzierte einen weiteren Objektträger mit einer unberührten menschlichen Eizelle unter das Mikroskop. Erneut beugte er sich darüber, um den Prägevorgang zu wiederholen.
    Vor Kurzem hatten die Nomenklatoren einen Namen entwickelt, der eine Gestalt erzeugte, die von einem menschlichen Fötus nicht zu unterscheiden war. Allerdings erwachten diese Gebilde nicht zum Leben: Sie blieben unbeweglich und reagierten nicht auf Reize. Man war sich einig, dass der Name die Eigenschaften eines menschlichen Wesens, von dessen äußerer Gestalt abgesehen, nicht genau genug beschrieb. Aus diesem Grund hatten Stratton und seine Mitarbeiter unermüdlich Beschreibungen der menschlichen Einzigartigkeit zusammengetragen, in dem Versuch, zwei Epitheta herauszufiltern, die sowohl hinreichend ausdrucksvoll waren, um diese Eigenschaften zu symbolisieren, und andererseits so knapp, dass man sie mit den physischen Epitheta zu einem aus zweiundsiebzig Buchstaben bestehenden Namen vereinen konnte.
    Stratton legte den letzten Objektträger in den Inkubator und machte sich im Laborbuch eine entsprechende Notiz. Im Moment hatte er keine Namen mehr, die in Nadeln aufgezogen waren, und die neuen Föten würden erst morgen so weit sein, dass man sie auf Bewegung hin überprüfen konnte. Er beschloss, den Rest des Abends oben im Salon zu verbringen.
    Als er den mit Walnussholz getäfelten Raum betrat, fand er Fieldhurst und Ashbourne in den dortigen Ledersesseln vor, Zigarren rauchend und an Brandy nippend. »Ah, Stratton«, sagte Ashbourne. »Setzen Sie sich doch zu uns.«
    »Gern«, sagte Stratton und ging zur Hausbar. Aus einer Kristallkaraffe schenkte er sich einen Brandy ein und setzte sich zu den beiden anderen.
    »Kommen Sie gerade aus dem Labor, Stratton?«, fragte Fieldhurst.
    Stratton nickte. »Vor ein paar Minuten habe ich mein neuestes Namenpaar geprägt. Ich glaube, mit meinen letzten Permutationen bin ich auf dem richtigen Weg.«
    »Mit diesem Optimismus stehen Sie nicht allein; Dr. Ashbourne und ich haben gerade darüber gesprochen, wie viel besser die Aussichten geworden sind, seit wir mit diesem Unternehmen begonnen haben. Inzwischen hat es ganz den Anschein, als würden wir schon lange vor der letzten Generation ein Euonym finden.« Fieldhurst paffte seine Zigarre und lehnte sich im Sessel zurück, bis sein Kopf auf dem Polsterschoner ruhte. »Womöglich erweist sich diese Katastrophe letzten Endes als Segen.«
    »Als Segen? Inwiefern?«
    »Nun, wenn wir die menschliche Fortpflanzung erst einmal unter Kontrolle haben, können wir die Armen davon abhalten, derart große Familien zu gründen, wie es viele von ihnen derzeit noch unbedingt wollen.«
    Stratton erschrak, versuchte jedoch, es sich nicht anmerken zu lassen. »Darüber hatte ich noch nicht nachgedacht«, sagte er vorsichtig.
    Auch Ashbourne schien ein wenig überrascht. »Mir war gar nicht bewusst, dass Sie einen solchen Plan verfolgen.«
    »Ich hielt es für übereilt, ihn früher zu erwähnen«, sagte Fieldhurst. »Über ungelegte Eier zu reden, wie man so schön sagt.«
    »Natürlich.«
    »Sie müssen doch zugeben, das Potenzial ist gewaltig. Wenn unsere Regierung bei der Entscheidung, wer Kinder bekommen sollte und wer nicht, ein wenig Weisheit walten ließe, könnte sie die Grundsubstanz der Rasse in diesem Land erhalten.«
    »Ist die Grundsubstanz unserer Rasse denn in Gefahr?«, fragte Stratton.
    »Möglicherweise ist Ihnen nicht aufgefallen, dass die Unterschicht sich weitaus stärker fortpflanzt als der Adel. Das gemeine Volk hat zwar seine guten Eigenschaften, es fehlt ihm jedoch an Verfeinerung und Intellekt. Und diese geistige Armut bringt immer wieder ihresgleichen hervor – eine Frau, die in arme Verhältnisse hineingeboren wird, kann nur Kinder gebären, denen das gleiche Schicksal beschieden ist. Infolge der enormen Fruchtbarkeit der Unterschicht wird unsere Nation irgendwann von ungehobelten Tölpeln überschwemmt werden.«
    »Man

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