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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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die Zukunft der Menschheit bietet ein Name die beste Chance.«
    »Sie haben recht«, sagte Stratton. Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: »Ich muss gestehen, während meiner Arbeit beschäftige ich mich die meiste Zeit über ausschließlich mit den Einzelheiten der Permutation und Kombination und verliere dabei das wahre Ausmaß unseres Unterfangens aus dem Blick. Es ist ungeheuerlich, an das zu denken, was wir vielleicht erreichen werden.«
    »Ich kann kaum an etwas anderes denken«, erwiderte Ashbourne.
    Stratton saß an seinem Schreibtisch in der Manufaktur und las mit zusammengekniffenen Augen das Flugblatt, das man ihm auf der Straße in die Hand gedrückt hatte. Der Druck war primitiv, die Lettern verschwommen.
    »Sollen die Menschen die Herren der Namen sein oder die Namen die Herren der Menschen? Viel zu lange haben die Kapitalisten Namen in ihren Truhen gehortet, mit Brief und Siegel geschützt und durch den bloßen Besitz von Buchstaben ein Vermögen angehäuft, während der einfache Mann sich jeden einzelnen Shilling erarbeiten muss. Sie werden das Alphabet bis zum letzten Penny auspressen und es erst dann für uns freigeben. Wie lange wollen wir uns das noch gefallen lassen?«
    Stratton überflog das gesamte Pamphlet, fand jedoch nichts Neues darin. In den letzten zwei Monaten hatte er immer wieder solche Flugblätter gelesen, die stets nur die üblichen anarchistischen Tiraden enthielten; bisher deutete nichts darauf hin, dass die Bildhauer auf diese Weise Strattons Arbeit zu torpedieren suchten, wie es Lord Fieldhurst befürchtete. Strattons öffentliche Vorführung der fingerfertigen Automaten war für die nächste Woche angesetzt, und bisher hatte Willoughby nichts unternommen, um die Öffentlichkeit gegen ihn aufzubringen. Stratton dachte sogar daran, für seine Idee selbst mit Flugblättern zu werben. Er könnte darin erklären, dass er die Vorteile der Automaten allen Menschen zugänglich machen wolle und die Absicht habe, die Kontrolle über seine Namenspatente zu behalten und nur denjenigen Herstellern Nutzungsrechte einzuräumen, die ethisch einwandfreien Gebrauch von ihnen machen wollten. Er könnte sogar seinen eigenen Slogan entwickeln, vielleicht etwas wie »Autonomie durch Automaten«.
    Es klopfte an der Tür zu seinem Büro. Stratton warf das Flugblatt in den Papierkorb. »Ja?«
    Ein Mann trat ein. Er war dunkel gekleidet und trug einen langen Bart. »Mr. Stratton?«, fragte er. »Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Benjamin Roth. Ich bin Kabbalist.«
    Für einen Augenblick war Stratton perplex. Normalerweise fühlten sich diese Mystiker von der modernen Wissenschaft der Nomenklatur angegriffen und sahen darin die Profanisierung eines geheiligten Rituals. Niemals hätte er erwartet, dass einer von ihnen in die Manufaktur kommen würde. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
    »Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie bei der Permutation von Buchstaben große Fortschritte erzielt haben.«
    »Oh, vielen Dank. Mir war nicht klar, dass das für jemanden wie Sie von Interesse sein würde.«
    Roth lächelte verlegen. »Mein Interesse gilt nicht der praktischen Anwendung. Die Kabbalisten streben danach, Gott zu erkennen. Am besten lässt sich das erreichen, indem man die Kunst studiert, durch die Er schöpferisch tätig ist. Wir meditieren über verschiedene Namen, um einen ekstatischen Bewusstseinszustand zu erlangen; je mächtiger der Name, desto stärker nähern wir uns dem Göttlichen.«
    »Ich verstehe.« Stratton fragte sich, was der Kabbalist wohl zu dem sagen würde, was sie durch die biologische Nomenklatur erschaffen wollten. »Bitte sprechen Sie doch weiter.«
    »Ihre Geschicklichkeits-Epitheta befähigen einen Golem, einen anderen zu modellieren und sich so zu reproduzieren. Ein Name, der ein Wesen erschaffen könnte, das selbst in der Lage wäre, etwas zu erschaffen, würde uns näher zu Gott bringen als je zuvor.«
    »Ich fürchte, Sie irren sich hinsichtlich meiner Arbeit, auch wenn Sie nicht der Erste sind, der diesem Trugschluss unterliegt. Durch die Fähigkeit, mit Gussformen zu hantieren, kann ein Automat sich nicht selbst reproduzieren. Dazu müsste er noch vieles andere können.«
    Der Kabbalist nickte. »Das ist mir sehr wohl bewusst. Im Laufe meiner Studien habe ich selbst ein Epitheton entwickelt, das bestimmte andere notwendige Fähigkeiten ausdrückt.«
    Stratton beugte sich vor; sein Interesse war schlagartig geweckt. Nach

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