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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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Sie bei sich zu Hause Kopien von Ihrer Arbeit?«
    »Ja.« Er brachte nur Satzfetzen heraus. »In meinem Schreibtisch. Im Studierzimmer.«
    »Keine anderen Kopien, die irgendwo versteckt sind? Vielleicht unter den Dielen?«
    »Nein.«
    »Ihr Freund dort oben hatte keine Kopien. Aber vielleicht jemand anderes?«
    Er durfte den Mann nicht nach Darrington Hall schicken. »Niemand.«
    Der Mann zog das Notizbuch aus Strattons Manteltasche. Stratton hörte, wie er langsam darin blätterte. »Gibt es Briefe? Korrespondenz mit Kollegen vielleicht?«
    »Nichts, womit irgendjemand meine Arbeit rekonstruieren könnte.«
    »Sie lügen mich an.« Der Mann ergriff Strattons Ringfinger.
    »Nein! Es ist die Wahrheit!« Er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme hysterisch klang.
    Auf einmal vernahm Stratton einen heftigen Schlag, und der Druck auf seinem Rücken ließ nach. Vorsichtig hob er den Kopf und blickte sich um. Neben ihm lag sein Angreifer bewusstlos auf dem Boden. Dahinter stand Davies, in der Hand einen lederbezogenen Totschläger.
    Davies steckte die Waffe ein und ging in die Hocke, um das Seil zu lösen, mit dem Stratton gefesselt war.
    »Sind Sie schwer verletzt, Sir?«
    »Er hat mir den Finger gebrochen. Davies, woher wussten Sie …?«
    »Als Lord Fieldhurst erfuhr, mit wem Willoughby sich getroffen hatte, hat er mich sofort hergeschickt.«
    »Gott sei Dank, dass Sie gekommen sind.« Stratton ging die Ironie der Lage auf – ausgerechnet der Mann, gegen den er Pläne schmiedete, hatte seine Rettung befohlen –, aber er war zu dankbar, als dass es ihn gekümmert hätte.
    Davies half Stratton auf die Beine und reichte ihm sein Notizbuch. Dann nahm er das Seil und fesselte den Assassinen. »Ich bin zuerst in Ihr Büro gegangen. Wer ist der Mann dort?«
    »Er heißt – hieß – Benjamin Roth.« Es gelang Stratton, seine frühere Begegnung mit dem Kabbalisten zusammenzufassen. »Ich weiß nicht, was er dort gemacht hat.«
    »Sehr religiöse Menschen neigen zum Fanatismus«, sagte Davies und überprüfte die Fesseln des Assassinen. »Da Sie ihm Ihre Arbeit nicht überlassen wollten, hielt er sich wohl für berechtigt, sie sich selbst zu nehmen. Er ist in Ihr Büro gegangen, um danach zu suchen, und hatte das Pech, dort zu sein, als dieser Bursche kam.«
    Stratton wurde von Reue erfasst. »Ich hätte Roth geben sollen, was er haben wollte.«
    »Sie konnten das nicht ahnen.«
    »Es ist eine abscheuliche Ungerechtigkeit, dass es ihn getroffen hat. Er hatte mit alldem nichts zu tun.«
    »So ist das eben, Sir. Kommen Sie, wir kümmern uns um Ihre Hand.«
    Davies schiente Strattons Finger und versicherte ihm, die Royal Society werde sich diskret aller Folgen der nächtlichen Ereignisse annehmen. Die ölverschmierten Papiere aus Strattons Büro verstauten sie in einem Koffer, damit Stratton sie in aller Ruhe und außerhalb der Manufaktur durchgehen konnte. Als sie fertig waren, stand eine Kutsche bereit, die Stratton zurück nach Darrington Hall bringen sollte; sie war dort zur gleichen Zeit wie Davies aufgebrochen, der in einer Rennmaschine nach London gefahren war. Mit dem Koffer in der Hand bestieg Stratton die Kutsche, während Davies zurückblieb, um sich um den Attentäter zu kümmern und Vorkehrungen für die Leiche des Kabbalisten zu treffen.
    Während der Kutschfahrt nippte Stratton immer wieder an einem Fläschchen mit Branntwein, um seine Nerven zu beruhigen. Bei der Ankunft in Darrington Hall spürte er tiefe Erleichterung; dieser Ort hielt zwar seine eigenen Tücken bereit, doch Stratton wusste, dass er hier vor Mordanschlägen sicher war. Als er in sein Zimmer kam, hatte seine Panik sich großenteils in Erschöpfung verwandelt, und er fiel in tiefen Schlaf.
    Am nächsten Morgen fühlte er sich schon viel gefasster und in der Lage, den Papierkoffer durchzusehen. Als er die Unterlagen in Stapel sortierte, die ungefähr ihrer ursprünglichen Ordnung entsprachen, stieß Stratton auf ein ihm unbekanntes Notizbuch. Auf dessen Seiten fanden sich hebräische Lettern, angeordnet in den vertrauten Mustern, nach denen man Namen zerlegte und neu zusammensetzte; allerdings waren sämtliche Notizen ebenfalls in hebräischer Sprache verfasst. Wieder durchzuckte ihn ein Gefühl der Schuld, als ihm klar wurde, dass das Notizbuch Roth gehört haben musste; der Mörder hatte es wohl bei ihm gefunden und zu Strattons Unterlagen geworfen, um es zu verbrennen.
    Fast hätte er es beiseitegelegt, doch die Neugier siegte – noch nie

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