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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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makelloser Haut und Knochenstruktur nimmt und sie dann noch mit Hilfe von Make-up und Retusche aufhübscht, dann ist das keine Schönheit in ihrer natürlichen Form mehr. Das ist konzentrierte Schönheit, das Kokain der Attraktivität.
    Biologen nennen so etwas einen »künstlich verstärkten Anreiz«; wenn man einer Vogelmutter ein riesiges Plastikei zeigt, dann wird sie das ausbrüten statt der eigenen Eier. Die Werbebranche hat unsere Umwelt mit solchen Stimulanzien übersättigt, mit visuellen Drogen. Unsere Schönheitsrezeptoren erhalten weit mehr Stimulation, als sie verarbeiten können; wir sehen an einem Tag mehr Schönheit als unsere Vorfahren in ihrem ganzen Leben. Und das führt dazu, dass es langsam unser Leben zerstört.
    Wie das? So, wie jede Droge zu einem Problem wird: indem sie in unsere Beziehungen zu anderen Menschen eingreift. Wir werden unzufrieden mit der Art, wie normale Menschen aussehen, weil sie dem Vergleich mit Supermodels nicht standhalten. Zweidimensionale Bilder sind schon schlimm genug, aber jetzt, mit Spex, setzt uns die Werbung das Supermodel direkt vor die Nase, und es sieht uns in die Augen. Software-Unternehmen bieten Göttinnen an, die den Terminkalender verwalten. Wir haben alle schon von Männern gehört, die ihre virtuellen Freundinnen lebenden vorziehen, aber das sind nicht die Einzigen, die davon betroffen sind. Je mehr Zeit wir in Gesellschaft von digitalen Simulationen verbringen, desto mehr wird das unsere Beziehung zu realen menschlichen Wesen belasten.
    Wenn wir in der modernen Welt leben wollen, können wir diesen Bildern nicht entgehen. Und das bedeutet, wir hängen an der Nadel, denn Schönheit ist eine Droge, der man sich nur dann enthalten kann, wenn man buchstäblich mit geschlossenen Augen durch die Welt geht.
    Bis jetzt. Jetzt kann man auf andere Art die Augen schließen, auf eine Art, die die Droge neutralisiert und einen doch sehen lässt. Das ist Calliagnosie: Einige Menschen behaupten, das sei des Guten zu viel, aber ich sage, es ist gerade ausreichend. Technologie wird benutzt, um unsere emotionalen Reaktionen zu manipulieren, also ist es nur gerecht, wenn wir sie einsetzen, um unseren Protest dagegen zu artikulieren.
    Jetzt habt ihr die Möglichkeit, ein bedeutendes Zeichen zu setzen. Die Studenten von Pembleton gehörten schon immer zur Speerspitze jeder fortschrittlichen Bewegung; was ihr hier beschließt, setzt Maßstäbe im ganzen Land. Indem ihr diese Resolution unterstützt, indem ihr Calliagnosie zum Standard macht, zeigt ihr den Werbemachern, dass junge Menschen nicht länger bereit sind, sich manipulieren zu lassen.
    Aus einem EduNews-Webcast:
    Umfragen nach der Rede von NCV-Präsident Walter Lambert zeigen, dass jetzt 54 Prozent der Studenten an der Pembleton-Universität hinter der Calliagnosie-Initiative stehen. Landesweite Umfragen zeigen, dass 28 Prozent der Studenten ähnliche Initiativen an ihren Hochschulen unterstützen würden, ein Anstieg von 8 Prozent innerhalb der letzten vier Wochen.
    Tamera Lyons:
    Ich dachte zuerst, dieser Kokain-Vergleich sei vollkommen übertrieben. Kennen Sie jemanden, der Sachen stiehlt und vertickt, um sich seine tägliche Dosis Werbung zu besorgen?
    Aber ich glaube, er trifft es schon in gewisser Weise, wenn es darum geht, gutaussehende Menschen in der Werbung mit wirklichen Menschen zu vergleichen. Es ist gar nicht mal so, dass sie besser aussehen als die Menschen im wirklichen Leben, sondern dass sie auf eine andere Art gut aussehen.
    Ich war zum Beispiel vor ein paar Tagen in diesem Laden und musste meine E-Mails checken, und als ich mein Spex aufsetzte, da lief dieses Werbe-Popup. Für irgendso ein Shampoo, ich glaube, Jouissance. Ich hatte den Clip schon vorher gesehen, aber ohne Calli war das anders. Das Model war so ... ich konnte gar nicht mehr wegsehen. Das war nicht so wie bei dem gutaussehenden Jungen in der Cafeteria; es ging gar nicht darum, dass ich die Frau kennenlernen wollte. Es war eher so ... so, als würde man einen Sonnenuntergang oder ein Feuerwerk betrachten.
    Ich habe einfach nur dagestanden und mir den Clip fünfmal angeschaut, nur um sie noch etwas länger vor Augen zu haben. Ich hätte einfach nie gedacht, dass ein Mensch so atemberaubend aussehen könnte.
    Aber deswegen werde ich doch nicht aufhören, mich mit anderen Menschen zu unterhalten, damit ich mir die ganze Zeit Werbeclips in meinem Spex anschauen kann! Ihnen zuzusehen, ist ein sehr intensives Erlebnis, aber es ist

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