Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
glaube, bevor ich Calli hatte, habe ich mir viel zu viele Gedanken über mein Aussehen gemacht, und das machte alles noch weit schlimmer. Jetzt sehe ich alles viel lockerer.
Ich halte mich jetzt nicht plötzlich für klasse oder so was, und ich bin mir auch sicher, dass es viele Leute gibt, denen Calli gar nicht helfen würde, aber für mich bedeutet es, dass ich mich nicht mehr so schlecht fühle wie früher. Und das heißt schon einiges.
Alex Bibescu, Professor für vergleichende Religionswissenschaft an der Universität von Pembleton:
Einige Kritiker haben die ganze Calliagnosie-Debatte vorschnell als oberflächlich abgetan, als einen Streit über Make-up oder darüber, wer einen Freund abbekommt und wer nicht. Aber wenn man die Sache genauer betrachtet, dann erkennt man, dass weit mehr dahintersteckt. Es geht um die uralte Dualität von Körper und Seele, eine ambivalente Haltung, von der die abendländische Zivilisation seit ihren Ursprüngen geprägt ist.
Verstehen Sie, das Fundament unserer Zivilisation ist im alten Griechenland gelegt worden, wo man den Körper und körperliche Vorzüge feierte. Aber unsere Kultur ist auch vollkommen von der monotheistischen Tradition durchdrungen, die der Seele den Vorzug vor dem Körper gibt. Diese beiden gegensätzlichen Schulen stehen sich jetzt im Streit um Calliagnosie erneut gegenüber.
Ich vermute, dass die meisten Befürworter von Calliagnosie sich als moderne, aufgeschlossene Liberale sehen und es weit von sich weisen würden, durch monotheistische Tendenzen geprägt zu sein. Aber schauen Sie sich doch einmal an, wer außer ihnen noch Calliagnosie propagiert: konservative religiöse Schulen. Es gibt Gruppierungen in allen drei großen monotheistischen Religionen – christlich, jüdisch und muslimisch –, die Calliagnosie einsetzen, um junge Gläubige vor fremden Einflüssen zu bewahren. Diese Übereinstimmung ist kein Zufall. Auch wenn die liberalen Befürworter von Calli nicht davon reden, dass man »den Versuchungen des Fleisches widerstehen« müsse, so folgen sie auf ihre Weise doch genau der gleichen Tradition der Abkehr vom Körperlichen.
Die einzigen Calliagnosie-Befürworter, die mit gutem Gewissen behaupten können, sie stünden nicht in der monotheistischen Tradition, sind die Neugeist-Buddhisten. Das ist eine Sekte, die Calliagnosie als einen Schritt auf dem Weg zur Erleuchtung sieht, weil damit die Wahrnehmung eingebildeter Unterschiede beseitigt wird. Aber die Neugeist-Sekte fordert einen ziemlich weitreichenden Einsatz von Neurostat, um tiefere Ebenen der Meditation zu erlangen, und das ist ein sehr radikaler Schritt in eine ganz andere Richtung. Ich bezweifle, dass man viele moderne Liberale oder konservative Monotheisten finden wird, die sich dem anschließen würden!
Sie sehen also – bei dieser Diskussion geht es nicht nur um Werbung und Kosmetik, sondern darum, die angemessene Herangehensweise an Körper und Geist zu finden. Sind wir mehr wir selbst, wenn wir den körperlichen Teil unserer Existenz auf ein Minimum beschränken? Sie müssen zugeben, das ist eine sehr tiefgründige Fragestellung.
Joseph Weingartner:
Nach der Entdeckung von Calliagnosie beschäftigten sich einige Wissenschaftler mit der naheliegenden Frage, ob man analoge Bedingungen schaffen könnte, die den Patienten blind gegen ethnische und rassische Unterschiede machen. Es gab eine Reihe von Experimenten – zum Beispiel hat man versucht, verschiedene Ebenen von Zuordnungsfunktionen gleichzeitig mit der Fähigkeit der Gesichtserkennung außer Funktion zu setzen. Aber die daraus resultierenden Zuordnungsdefizite waren nie zufriedenstellend. In den meisten Fällen waren die Probanden einfach nicht mehr in der Lage, ähnlich aussehende Personen zu unterscheiden. Einer der Tests führte sogar zu einer harmlosen Abart des Fragoli-Syndroms, bei der der Proband jeden Menschen, den er traf, für ein Familienmitglied hielt. Bedauerlicherweise ist die biblische Ermahnung, jeden Menschen wie seinen Bruder zu behandeln, im alltäglichen Leben nicht sehr hilfreich.
Als man begann, Neurostat auf breiter Basis zur Therapie von zwanghaftem Verhalten und ähnlichen Krankheitsbildern einzusetzen, dachten viele Leute, der programmierte Mensch sei jetzt Wirklichkeit geworden. Die Leute fragten ihre Ärzte, ob man ihnen die gleichen sexuellen Wünsche wie ihren Partnern einpflanzen könne. Gesellschaftskritische Stimmen befürchteten, man könne die Treue zu einem Staatswesen oder einer
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