Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
beschnitten.
Sich in Gesellschaft einer Weltklasseschönheit zu befinden, kann genauso anregend sein wie der Klang der Stimme eines Weltklassesoprans. Begnadete Individuen sind nicht die Einzigen, die von ihrer Gabe profitieren, wir alle tun das. Oder – das sollte ich wohl eher einschränken – wir alle können das. Wenn wir uns diese Möglichkeit versagen, dann ist das ein Verbrechen.
Werbespot, finanziert von Menschen für eine ethische Nanomedizin:
Aus dem Off: Haben deine Freunde dir erzählt, dass Calli cool ist und dass es hip ist, die auch zu haben? Dann solltest du vielleicht mal mit Leuten reden, die mit Calli aufgewachsen sind.
»Als meine Calli abgeschaltet wurde, da zuckte ich zusammen, als ich zum ersten Mal einem unattraktiven Menschen begegnete. Ich wusste, es war albern, aber ich konnte nichts dagegen tun. Calli verhilft einem nicht zu gesellschaftlicher Reife, diese Reife wurde mir vorenthalten. Ich musste ganz neu lernen, wie man mit Menschen umgeht.«
»Ich wollte unbedingt Maler werden. Ich habe Tag und Nacht studiert und gearbeitet, aber das wurde alles nichts. Meine Lehrer sagen, ich habe einfach nicht das Auge dafür, da meine Calli mich in ästhetischer Hinsicht abgestumpft hat. Es gibt keine Möglichkeit, das zurückzubekommen, was ich verloren habe.«
»Calli war so, als hätte ich meine Eltern in meinem Kopf, wo sie meine Gedanken kontrollieren. Jetzt, seit sie abgeschaltet ist, merke ich erst, wie sehr ich missbraucht worden bin.«
Aus dem Off: Wenn diejenigen, die mit Calliagnosie aufgewachsen sind, nichts Gutes darüber zu berichten haben, sollte euch das nicht zu denken geben?
Diese jungen Menschen hatten keine Wahl. Ihr schon. Eine Hirnschädigung ist nie etwas Gutes, ganz gleich, was eure Freunde sagen.
Maria deSouza:
Wir hatten noch nie von den Menschen für eine ethische Nanomedizin gehört, also haben wir Erkundigungen eingezogen. Wir mussten ein bisschen graben, aber dann stellte sich heraus, dass es sich gar nicht um eine Bürgerinitiative handelte, sondern um eine Werbemaßnahme der Pharmaindustrie. Einige Kosmetikfirmen haben sich zusammengetan und den Verein gegründet. Es ist uns bisher nicht gelungen, an die Menschen heranzukommen, die in dem Werbespot auftreten, daher können wir auch nicht sagen, was und ob überhaupt etwas an ihren Aussagen der Wahrheit entspricht. Selbst wenn sie ihre ehrliche Meinung sagen, so sind sie doch bestimmt nicht repräsentativ; die meisten Menschen, die ihre Calli abschalten lassen, fühlen sich danach sehr gut. Und es gibt nachweislich Maler, die mit Calli aufgewachsen sind.
In gewisser Weise erinnert mich das an einen Werbespot, den eine Model-Agentur produziert hat, als die Calli-Bewegung noch in den Kinderschuhen steckte. Es war nur eine Portraitaufnahme eines Supermodels mit der Unterschrift: »Wenn Sie ihre Schönheit nicht mehr wahrnehmen können, wer ist dann wohl der Leidtragende, sie oder Sie?« Diese neue Kampagne hat im Grunde die gleiche Aussage: »Es wird euch leidtun.« Aber statt des aggressiven Tonfalls von früher tarnt sie sich jetzt als besorgte Warnung. Das ist ein klassischer Werbekniff: Man versteckt sich hinter einem wohlklingenden Namen und erweckt den Eindruck, unvoreingenommen und um das Wohl des Kunden besorgt zu sein.
Tamera Lyons:
Ich fand diesen Werbespot völlig bescheuert. Es ist ja nicht so, dass ich diese Resolution befürworte – ich will, dass die Leute dagegen stimmen –, aber das sollen sie nicht aus den falschen Gründen tun. Mit Calli aufgewachsen zu sein ist keine Benachteiligung. Es gibt keinen Grund, warum das jemandem im Nachhinein leidtun müsste. Ich habe das sehr gut verkraftet. Und deswegen meine ich, dass die Leute gegen die Resolution stimmen sollten: Weil es einfach toll ist, Schönheit zu sehen.
Na ja, jedenfalls habe ich wieder mit Garrett geredet. Er sagt, er hat seine Calli gerade abschalten lassen. Er meint, es sei toll, aber auch irgendwie komisch, und ich sagte ihm, ich hätte mich genauso gefühlt, als meine Calli abgeschaltet wurde. Wahrscheinlich war es albern, sich wie jemand aufzuführen, der sich richtig gut damit auskennt, dabei ist meine Calli doch erst seit ein paar Wochen abgeschaltet.
Joseph Weingartner:
Eine der ersten Fragen, die sich die Forscher angesichts von Calliagnosie stellten, war natürlich, ob es Streueffekte gibt, das heißt, ob auch die Erkenntnis von Schönheit beeinträchtigt wird, die nicht auf Gesichtern basiert. Im Großen und Ganzen
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