Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
scheint die Antwort darauf »nein« zu lauten. Calliagnostiker finden offenbar den Anblick der gleichen Dinge schön wie alle anderen Menschen auch. Aber natürlich können wir Nebenwirkungen nicht ausschließen.
Um das zu verdeutlichen, können wir uns Streueffekte ansehen, die bei Prosopagnostikern beobachtet wurden. Ein Prosopagnostiker, der seinen Lebensunterhalt als Milchbauer bestritt, konnte danach seine Kühe nicht mehr voneinander unterscheiden. Ein anderer hatte Schwierigkeiten, Automodelle auseinanderzuhalten. Auch so etwas gibt es. Diese Fälle lassen darauf schließen, dass wir manchmal unsere Gesichtserkennungsroutine auch für andere Aufgaben benutzen, und nicht nur für das Erkennen von Gesichtern. Vielleicht erscheint uns etwas bewusst gar nicht wie ein Gesicht – ein Auto zum Beispiel –, aber auf der neuronalen Ebene betrachten wir es so, als sei es eines.
Vielleicht gibt es einen ähnlichen Streueffekt bei Calliagnostikern, aber da Calliagnosie viel selektiver ist als Prosopagnosie, wären auch potenzielle Streueffekte viel schwieriger zu bestimmen. Der Einfluss der Mode im Erscheinungsbild von Automodellen ist zum Beispiel sehr viel gravierender als ihr Einfluss auf das Aussehen von Gesichtern, und es gibt auch keine allgemeingültig messbaren Werte, welche Automodelle am attraktivsten sind. Vielleicht gibt es den einen oder anderen Calliagnostiker, der jetzt den Anblick von bestimmten Automodellen nicht mehr so genießt, wie er das sonst vielleicht tun würde, aber wenn das so ist, hat er sich bisher noch nicht darüber beschwert.
Dann gibt es da die Rolle, die unser Schönheitserkennungsprogramm bei der ästhetischen Erfahrung von Symmetrie spielt. Wir schätzen Symmetrie auf vielen Gebieten – Malerei, Bildhauerei, Grafik –, aber gleichzeitig schätzen wir auch Asymmetrie. An unserer Einschätzung von Kunst sind viele Faktoren beteiligt, und es gibt so gut wie keine allgemeingültigen Erkenntnisse darüber, wann ein bestimmtes Kunstwerk als besonders gelungen empfunden wird.
Vielleicht wäre es interessant zu untersuchen, ob es in Gemeinschaften, in denen Calliagnosie vorherrscht, weniger wirklich begabte Künstler gibt als in anderen soziologischen Gruppen, aber angesichts der verschwindend geringen Anzahl solcher Individuen in der Allgemeinbevölkerung dürfte es unmöglich sein, aussagekräftige statistische Daten zu erheben. Das Einzige, was wir sicher wissen, ist, das Calliagnostiker auf einige Portraitgemälde nicht so deutlich reagieren wie andere Menschen, aber das ist eigentlich keine Nebenwirkung, denn Portraitdarstellungen ziehen einen nicht unerheblichen Teil ihrer Wirkung aus der Schönheit des Gesichts der portraitierten Person.
Natürlich ist jede Form von Nebenwirkung für manche Menschen schon zu viel. Das ist der Grund, den einige Eltern vorbringen, die nicht wollen, dass ihre Kinder Calliagnosie bekommen. Sie wollen, dass ihre Kinder in der Lage sind, die Mona Lisa zu würdigen und vielleicht ein ähnliches Werk zu schaffen.
Marc Esposito, 7. Semester, Waterston College:
Diese Sache da in Pembleton hört sich einfach völlig durchgeknallt an. Das klingt, als würden die da einen richtig üblen Streich planen. Sie wissen schon, so was wie, man bringt da diesen Kerl mit diesem Mädchen zusammen und erzählt ihm, die ist der absolute Knaller, aber in Wirklichkeit hat man ihm die letzte Schreckschraube hingestellt, und er kann den Unterschied nicht erkennen, also glaubt er dir. Das wäre ja sogar noch komisch.
Aber ich würde mir nie diese Calli-Scheiße verpassen lassen. Ich will mich mit gutaussehenden Mädels treffen. Warum sollte ich mich auf etwas einlassen, wo ich Abstriche machen müsste? Na ja, okay, an manchen Abenden sind alle gutaussehenden Mädels schon vergeben, und man muss sich mit dem begnügen, was übrig ist. Aber die kann man sich ja schönsaufen. Deswegen muss ich aber doch nicht die ganze Zeit mit Bierbrille rumlaufen, oder?
Tamera Lyons:
Also, Garrett und ich haben gestern Abend wieder miteinander telefoniert, und irgendwann habe ich ihn gefragt, ob wir nicht auf den Videomodus umschalten sollten, damit wir uns sehen können. Er sagte, warum nicht, und das haben wir dann getan.
Ich tat ganz beiläufig, doch ich hatte geraume Zeit damit verbracht, mich vorzubereiten. Ina bringt mir bei, wie man Make-up benutzt, aber ich bin damit noch nicht sonderlich gut, also habe ich mir diese Videofon-Software besorgt, die einen aussehen lässt, als
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