Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
der Firma, bei der seine Frau Wendy angestellt ist, und arbeitet an der Animation virtueller Fernsehschauspieler. Er hat Glück mit seiner Serie, denn die Drehbücher sind ausgezeichnet, doch so lässig und schlagfertig die Dialoge auch klingen, alles daran, von den Worten über Zweideutigkeiten und Intonation, ist akribisch choreografiert. Während der Animation hört Derek den Text hundertmal, und das Endergebnis wirkt in seiner Perfektion glatt und steril.
Das Zusammenleben mit Marco und Polo hingegen ist voller Überraschungen. Er hat sie beide adoptiert, weil er nicht wollte, dass sie getrennt würden, und auch wenn er nicht so viel Zeit mit ihnen verbringen kann wie in seiner Zeit bei Blue Gamma, ist es inzwischen interessanter denn je, Digis zu halten. Die Kunden, die ihre Digis haben weiterlaufen lassen, haben eine Neuroblast-Usergruppe gebildet, um miteinander in Kontakt zu bleiben. Die Community ist zwar kleiner als früher, aber ihre Mitglieder sind aktiver und engagierter, und ihre Anstrengungen tragen Früchte.
Jetzt gerade ist Wochenende, und Derek ist auf dem Weg zum Park. Auf dem Beifahrersitz befindet sich Marco, der seinen Roboterkörper trägt. Er steht auf dem Sitz – wobei ihn der Gurt behindert –, um aus dem Fenster schauen zu können; er hält nach Dingen Ausschau, die er bisher nur in Videos gesehen hat, Dingen, die es auf Erde 2 nicht gibt.
»Hidant«, sagt Marco und zeigt mit dem Finger.
»Hydrant.«
»Hydrant.«
»Ganz genau.«
Der Körper, den Marco gerade trägt, ist derjenige, der früher Blue Gamma gehört hat. Mit den Exkursionen war Schluss, weil SaruMech Toys kurz nach Blue Gamma zugemacht hat, daher hat Ana – die inzwischen eine Anstellung gefunden hat und Software für CO 2 -Speicheranlagen testet – den Roboterkörper günstig für Jax erstanden. Letzte Woche hat sie Derek den Körper geliehen, damit Marco und Polo darin spielen konnten, und jetzt will er ihn zurückgeben. Sie wird den Tag im Park verbringen, um anderen Digibesitzern den Körper für eine Weile zu überlassen.
»Nächste Bastelstunde ich mach Hydrant«, sagt Marco. »Nehm Trommel, Röhre, Trommel.«
»Das klingt gut«, sagt Derek.
Marco spricht von den Bastelstunden, an denen die Digis inzwischen jeden Tag teilnehmen. Sie haben vor ein paar Monaten damit angefangen, nachdem ein Besitzer ein Programm geschrieben hat, mit dem man den Bildschirmeditor für Erde 2 innerhalb von Erde 2 selbst benutzen kann. Mittels einer Konsole können die Digis jetzt verschiedene Formen instanziieren, deren Farbe verändern und sie auf verschiedene Weise kombinieren und bearbeiten. Die Digis sind im siebten Himmel; für sie ist es, als hätte man ihnen Zauberkräfte verliehen, und wenn man bedenkt, wie die Bearbeitungstools die simulierte Physik von Erde 2 umgehen, dann stimmt das sogar gewissermaßen. Jeden Tag, wenn Derek sich nach der Arbeit in Erde 2 einloggt, zeigen ihm Marco und Polo, was sie gebastelt haben.
»Da ich kann zeigen Polo, wie ... Park! Schon Park?«
»Nein, wir sind noch nicht da.«
»Auf Schild steht ›Burger und Parks‹.« Marco zeigt auf ein Schild, an dem sie gerade vorbeifahren.
»Da steht ›Burger und Shakes.‹ Shakes, nicht Parks. Wir müssen noch ein bisschen fahren.«
»Shakes«, sagt Marco und beobachtet, wie das Schild mit zunehmender Entfernung immer kleiner wird.
Der Leseunterricht ist eine weitere neue Beschäftigung für die Digis. Marco und Polo haben Geschriebenem früher kaum Aufmerksamkeit geschenkt – auf Erde 2 gibt es nicht viel davon, abgesehen von Hinweisen auf dem Bildschirm, die für Digis unsichtbar sind –, aber ein Besitzer hat seinen Digis beigebracht, geschriebene Befehle auf Karteikarten zu erkennen, und ein paar andere Besitzer haben das ebenfalls ausprobiert. Im Großen und Ganzen können die Neuroblast-Digis Wörter ganz gut identifizieren, haben aber Schwierigkeiten, einzelne Buchstaben mit Lauten in Verbindung zu bringen. Es ist eine spezielle Form der Leseschwäche, die offenbar mit dem Neuroblast-Genom zu tun hat; nach dem, was man von anderen Usergruppen hört, lernen Origami-Digis die Buchstaben schnell, während Fabergé-Digis unabhängig von der Unterrichtsmethode Analphabeten bleiben.
Marco und Polo werden mit Jax und ein paar anderen zusammen im Lesen unterrichtet, und anscheinend haben sie ziemlich viel Spaß daran. Keinem der Digis wurden in den Anfangszeiten Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen, daher fasziniert geschriebener Text sie nicht
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