Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
alles andere als glücklich sind, so ist das für sie doch nur eine weitere Episode in der Geschichte der Softwareindustrie. Ana jedoch fühlt sich durch Blue Gammas Auflösung an die Schließung des Zoos erinnert, eine der traurigsten Erfahrungen in ihrem Leben. Immer noch kommen ihr die Tränen, wenn sie daran denkt, wie sie ihre Menschenaffen zum letzten Mal gesehen und sich gewünscht hat, sie könnte ihnen erklären, warum sie Ana nicht wiedersehen würden, und wie sie gehofft hat, dass sie sich an ihr neues Zuhause gewöhnen würden. Als sie sich für die Umschulung in der Softwareindustrie entschieden hat, war sie froh, dass sie in ihrer neuen Branche nie wieder einen solchen Abschied würde erleben müssen. Und nun sitzt sie da, wider alle Erwartung in einer Situation, die der damaligen auffallend ähnlich ist.
Aber genau das Gleiche ist es nicht. Blue Gamma muss kein neues Zuhause für sein Dutzend Maskottchen finden; man kann sie einfach anhalten – ohne schwerwiegende Folgen wie bei einer Euthanasie. Ana selbst hat in der Phase der Zucht Tausende Digis angehalten, und sie sind weder tot, noch fühlen sie sich verlassen. Durch die Stilllegung der Maskottchen würden nur die Trainer leiden. Während der letzten fünf Jahre ist Ana jeden Tag mit den Maskottchen zusammen gewesen, und sie will nicht von ihnen Abschied nehmen. Zum Glück gibt es eine Alternative: Jeder Angestellte darf auf Erde 2 ein Maskottchen als Haustier behalten, während es damals nicht infrage kam, einen Affen in ihrer Wohnung zu halten.
Nachdem man es ihnen so leicht macht, ist Ana überrascht, dass die meisten Angestellten kein Maskottchen adoptieren wollen. Bei Derek kann sie sich darauf verlassen, dass er eines nimmt – er liebt die Digis genauso sehr wie sie selbst –, aber die Ausbilder sind ganz unerwartet zögerlich. Sie alle mögen die Digis, aber für die meisten ist die Vorstellung, eines von ihnen als Haustier zu behalten, so, als würden sie ihre Arbeit ohne Bezahlung machen. Ana ist sich ganz sicher, dass Robyn eines nehmen wird, aber Robyn kommt ihr beim Mittagessen mit einer Neuigkeit zuvor.
»Wir wollten es noch niemandem sagen«, vertraut Robyn ihr an, »aber … ich bin schwanger.«
»Wirklich? Herzlichen Glückwunsch!«
Robyn lächelt. »Danke!« Sie sprudelt alles Mögliche hervor, was sie zuvor zurückgehalten hat: die verschiedenen Möglichkeiten, die sie und ihre Partnerin Linda miteinander diskutiert haben, die Eizellverschmelzung, mit der sie es versucht haben, das unglaubliche Glück, als gleich der erste Versuch erfolgreich war. Ana und Robyn unterhalten sich über alle möglichen Aspekte der Arbeitssuche und der Elternzeit. Schließlich nehmen sie das Thema Adoption wieder auf.
»Mir ist schon klar, dass du alle Hände voll zu tun haben wirst«, meint Ana, »aber was hältst du davon, Lolly zu adoptieren? Es wäre faszinierend zu beobachten, wie Lolly auf eine Schwangerschaft reagiert.«
»Nein«, antwortet Robyn und schüttelt den Kopf. »Digis sind nichts mehr für mich.«
»Sie sind nichts mehr für dich?«
»Ich bin jetzt bereit für das Original, verstehst du?«
Vorsichtig sagt Ana: »Da bin ich mir nicht ganz sicher.«
»Es heißt immer, wir hätten von Natur aus einen Kinderwunsch, und ich habe das immer für einen Haufen Unsinn gehalten, aber jetzt nicht mehr.« Robyns Miene wirkt verzückt; ihre Worte sind nicht mehr wirklich an Ana gerichtet. »Katzen, Hunde, Digis, das ist alles nur ein Ersatz für das, wofür wir eigentlich sorgen sollten. Irgendwann begreifst du, was ein Kind bedeutet, was es wirklich bedeutet, und das ändert alles. Und dann erkennst du, dass all deine früheren Gefühle nicht …« Robyn bricht ab. »Ich meine damit, dass es für mich die Dinge ins richtige Verhältnis gerückt hat.«
Frauen, die bei ihrer Arbeit mit Tieren zu tun haben, hören das ständig: dass ihre Liebe zu den Tieren einem unterdrückten Kinderwunsch entspringt. Ana ist das Stereotyp leid. Sie mag Kinder ganz gern, aber sie sind nicht der Goldstandard, an dem sich alles andere zu messen hat. Sich um Tiere zu kümmern, ist eine an sich lohnenswerte Aufgabe, eine Berufung, die keinerlei Rechtfertigung bedarf. Als Ana bei Blue Gamma angefangen hat, hätte sie über die Digis zwar nicht das Gleiche gesagt, aber jetzt wird ihr klar, dass das möglicherweise auch für sie gilt.
4
Das Jahr nach der Schließung von Blue Gamma bringt für Derek viele Veränderungen mit sich. Er findet eine Stelle bei
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