Das War Ich Nicht
meine Wohnung viel größer als mein Zimmer in der Bochumer Studenten-WG.
Ich war noch nicht einmal zum Wasserspender gegangen, da war es schon nach sechs, und die Kollegen tauchten auf. Suzanne und Nathan saßen bereits an ihren Plätzen, als ich sie bemerkte. Sie betreuten die großen Kunden, die nie zu mir durchgestellt wurden.
Suzanne und Nathan begrüßten mich nie. Es lag wohl daran, dass ich aus dem Back-Office kam. Ich war zwar schon zwei Jahre hier im Händlersaal, aber noch immer schienen sie nicht vergessen zu haben, dass ich mal einer von denen gewesen war, die kontrollierten, bemängelten und hinterherrechneten. So jemand war hier so beliebt wie ein Legebatterienbesitzer im Tierschutzverein.
Selbst unser schüchterner Trainee Jeff schlich an seinen Platz, ohne mich anzusehen. Ich fragte ihn nicht, warum er meine Bier-Anfrage auf Facebook ignoriert hatte.
Wenigstens unser Teamleiter Alex sagte etwas zu mir: »Wie war London?«
»Sehr gut.«
»Guten Flug gehabt?«
»Ich war noch mit den Londoner Jungs im Pub, in der Hotelbar und bin dann direkt zum Flughafen ... «
»Na, ist doch super«, sagte Alex. Er konnte die größten Selbstverständlichkeiten behaupten und trotzdem glaubte man ihm nicht. Was an der Ausdruckslosigkeit seines Gesichts lag. Alex mochte das für ein Pokerface halten, doch mich erinnerte es an billige Zeichentrickfilme - nur die Lippen bewegten sich, der Rest des Gesichts, die Stirn, die Augen blieben starr.
Meine Kollegin Suzanne startete ihren Computer. Auf allen vier Monitoren erschien das Bild ihres Yorkshire-Terriers. Nathan und Jeff hatten Fotos von ihren Kindern an die Bildschirmränder geklebt, an Nathans Bildschirm war auch noch ein Foto seiner Frau.
Nun klingelte nicht nur mein Telefon, sondern auch die der anderen wie bei einem Musikstück, wenn nach und nach immer mehr Instrumente einsetzten. Zu den Kunden aus London kamen unsere Kunden aus New York, Chicago und dem Mittleren Westen hinzu. Fix-Messages poppten auf dem Monitor mit unserem internen Chat-Protokoll auf. »Hast du einen Preis für dies, gibt es Nachfrage für das, kannst du die loswerden, das kaufen ... ?« Der Markt nahm die positiven Impulse aus Europa auf. Stimmen aus London riefen die Orders direkt über die Squawk-Box in den Raum. Auch wenn ich am Telefon war, achtete ich immer auf die Squawk-Box. So ein Lautsprechersystem ist schneller als alles andere, man hat ein Kaufgesuch schneller ausgesprochen als eingetippt, dort lauerten die Chancen, 100.000 Intel, Basis 60,Junifälligkeit, Call. Betraf mich nicht ... was hatte der Kunde am Telefon gesagt? Put. Ja. Verkaufsoption. »Sekunde«, sagte ich und suchte mir die Daten zusammen, gab alles ein, ein Schwung mit dem Mauspfeil, ein Klick auf Ausführen. Squawk-Box. Jemand suchte einen Käufer für Citicorp-Kontrakte. Betraf mich auch nicht. Telefon. Weiter.
Erst als das Telefon für einen Moment nicht klingelte, dachte ich wieder daran, dass ich gleich gefeuert werde. So war es immer gewesen. Egal, was in meinem Kopf vorging: Solange das Telefon klingelte, die Aufträge kamen, tat ich alles, um für die Kunden den günstigsten Kurs zu finden und trotzdem etwas Geld für die Bank zu verdienen, und vergaß alles um mich herum.
Chris Neely kam um 6:32, wie immer später als die anderen.
Er war der einzige Kollege, der mich begrüßte, obwohl ich mir jeden Morgen wünschte, er täte es nicht.
»Hey, St.-Pauli-Girl«, sagte er und schlug mir so kräftig zwischen die Schulterblätter, dass meine Arme nach hinten zuckten. St. Pauli Girl war ein Bier mit einer blonden bayrischen Zenzi auf dem Etikett. Es tat nichts zur Sache, dass ich nicht besonders feminin rüberkam. Dass er mir einen Spitznamen geben konnte, der überhaupt nicht zu mir passte, bewies nur noch mehr, wie überlegen er mir war. Und dass er nicht wusste, wofür St. Pauli stand und was die Girls auf St. Pauli taten, war ein schwacher Trost.
Niemand redete mit mir. Niemand warnte mich vor dem Krawattenmann. Stattdessen begann ein ganz normaler Tag. Kein Geschrei, keine wilden Gesten. Suzanne hatte ihr Headset aufgesetzt, die meisten benutzten weiterhin Telefonhörer. Nathan hatte gerade eine große Order aus der Squawk-Box angenommen, die rechte Hand ruhig auf seiner Maus, tippte er auf die grünen, gelben, roten Tasten der Bloomberg-Tastatur. Die Spannung war enorm, gerade weil es so ruhig war und trotzdem alles so schnell gehen musste. Die Leuchtanzeigebänder, die um alle vier Seiten des
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