Das War Ich Nicht
eigentlich: Ich habe mich ganz lange mit Ihnen beschäftigt, ohne dass wir uns persönlich kennen. Ich habe Sie stilistisch gestalkt. »Mr. LaMarck, ich bin Meike Urbanski. Ihre deutsche Stimme. Mr. LaMarck, ich bin Meike Urbanski. Aus Hamburg. Aus dem schönen Norddeutschland.«
Drei Kaffee später ging ich wieder auf die LaSalle Street und lief dort hin und her, wartete, rauchte, kaufte mir im Caribou einen Kaffee zum Mitnehmen, lief Kaffee trinkend hin und her, rauchend hin und her, bis ich begann, mir Sorgen zu machen. Was, wenn er nicht mehr kam? Ich hatte die Hände in den Taschen, umfasste eine Caribou-Serviette und meine Zigaretten mit der Linken und mit der Rechten den BlackBerry, den ich gelegentlich herausholte, um den Anschein zu erwecken, ich hätte etwas zu tun, sei beschäftigt, gestresst. Alle möglichen Leute hätte ich anrufen können, aus Amerika, mobil und umsonst: Arthur, Lars, meine Eltern, meine Studienfreundin Beate, die ich seit einem Jahr nicht mehr gesehen hatte, weil sie mit Mann und Kind aus dem Schanzenviertel an den Stadtrand nach Wellingsbüttel gezogen war.
Es wurde drei Uhr, vier Uhr und dämmerte. Müde von der Kälte und von dem vielen Kaffee auf nüchternen Magen zitternd, machte ich mich auf den Heimweg. Doch als ich das Kloster erreicht hatte, lief ich daran vorbei. Immer weiter weg von der Innenstadt. Die Abstände zwischen den Straßenecken schienen immer größer zu werden, es gab immer weniger Restaurants, mehr Schnapsläden, mehr vernagelte Fenster. Ich nahm einen Bus zurück und stieg am Kloster aus. Ging jedoch wieder nicht hinein, sondern nun zu Fuß in die andere Richtung, wieder Richtung Stadt. Je öfter ich an Henry LaMarck dachte, desto mehr wich mein Ärger einem schlechten Gewissen. Er hatte einen so verwirrten Eindruck gemacht, ich hätte ihm helfen müssen. Nun irrte er bestimmt immer noch durch diese Stadt, nur heute an einem anderen Ort, und mir lief die Zeit davon. Mein Rückflug war in wenigen Tagen, und ich hatte ohnehin kaum noch genug Geld, um meine Pension zu bezahlen. Irgendwann wurde es endgültig dunkel, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Nun blieb mir wirklich nichts anderes übrig, als zurück zu den Nonnen zu gehen.
Kurz nachdem ich meinen nassen Mantel im Zimmer über die Heizung gehängt und den BlackBerry auf den Nachttisch gelegt hatte, vibrierte er.
Krieg der Sterne.
Ehe ich mich daran erinnerte, dass ich auf gar keinen Fall vor dem siebten Klingeln rangehen wollte, hatte ich bereits gesagt: »Hallo?«
»Hier ist Jasper.« »Was gibt's?«
»Was machst du denn gerade?«
Ich schwieg. Diese Frage hätte ich mir selbst nicht besser stellen können.
»Du hast zu tun, oder?«, fragte er.
»Ja«, sagte ich und überlegte, etwas zu lange, um das, was ich dann sagte, noch glaubwürdig klingen zu lassen: »Ich muss zu einem Abendessen. Mit Leuten aus der Verlagsbranche.«
»Das trifft sich gut, ich würde nämlich auch gern mit dir zu Abend essen, habe aber auch keine Zeit«, sagte er. Ich machte mich bereit, ihm zu sagen, dass ich ihn nicht treffen wollte. Dann wollte ich ihn nach seinem Nachnamen fragen, damit ich den BlackBerry in der Bank abgeben konnte, als er fortfuhr: »Wir könnten ja mal einen Espresso trinken gehen. Wenn wir beide so wenig Zeit haben.«
Ich musste wohl Ja gesagt haben, denn Jasper verabschiedete sich mit den Worten:
»Schön. Dann bis morgen.«
Nachdem ich aufgelegt hatte, wäre ich gern im Zimmer umhergegangen, doch dazu war es zu klein. Also legte ich mich aufs Bett. Was wollte dieser Banker von mir? Der brauchte doch eine blonde Botox-Trophäe mit langen Beinen und keine von Arbeitslosigkeit bedrohte Übersetzerin. Doch er flirtete mich nun mal an. Das war ganz normal. Genau so musste ich auf seine Annäherungsversuche reagieren. Allein schon, weil das etwas war, wozu eine Literaturverrückte nicht in der Lage gewesen wäre. Außerdem kannte ich nun zumindest einen Menschen in Chicago.
JASPER
Auf dem Weg nach Hause hatte ich genau nach Plan gehandelt. Mir ein neues Handy gekauft, allerdings keinen BlackBerry, denn die gab es nur mit Vertrag, und eine neue Nummer hätte zwei Tage gedauert. Also kaufte ich ein Billighandy mit Guthaben zum Abtelefonieren, rief sofort bei meiner Telefongesellschaft an, um die alte Nummer sperren zu lassen. Ein Mitarbeiter meldete sich, ich legte auf.
Stattdessen rief ich Meike an. Die Leuchtanzeige des Handys teilte mir mit, dass eine Verbindung zu meiner eigenen Nummer
Weitere Kostenlose Bücher