Das War Ich Nicht
annehmen. Dabei wollte ich eigentlich nur noch schlafen. Mein Augenlid zuckte weiter. »Man sieht es dir nicht an«, sagte ich mir. »Niemand sieht dir an, dass du auf dem Weg bist, der Verlierer des Jahrzehnts zu werden.«
Ich dachte an meinen Vater. Hätte ich ihm die Wahrheit gesagt? Ich musste aufhören, an so was zu denken. Es gab wirklich Wichtigeres. Ich kannte meinen Vater ja nicht mal. War noch viel zu klein, als er nach diesem einen langen Arbeitstag mit den Kollegen noch ein Glas trinken gegangen war. Ein Glas Wein nur, er musste ja noch fahren. War immer gewissenhaft. Der Fahrer des grünen Ford Granada war es nicht. Hatte zwei Promille, fuhr bei Rot über die Ampel und rammte den Audi meines Vaters.
Telefon. Schon zum dritten Mal klingelte es, zum vierten Mal, doch ich reagierte nicht. Hörte die Stimme meiner Mutter, die mir von meinem Vater erzählte. Er existierte für mich nur durch ihre Stimme, durch das Foto, das ich nun vor mir sah. Meine Mutter hatte es in mein Kinderzimmer gehängt: ein junger Mann mit Fönfrisur in einem weißen Polohemd mit grünem Krokodil auf der linken Brust.
Ihm hätte ich erzählen können, was hier passierte. Es wäre ihm nicht egal gewesen - im Gegensatz zu Meike. Bei unserem Espresso-Date hatte ich wieder alles falsch gemacht. Doch nun hatte ich noch eine letzte Chance bekommen. Ich hatte ihren Schriftsteller kennengelernt, diesen Henry LaMarck. Dieser komische Kauz schien mich irgendwie zu mögen. Hielt mich für einen echten Profi. Ich musste versuchen, mich mit ihm anzufreunden.
Dann nahm ich endlich wieder das Telefon ab. Handelte. Erst als es Tag geworden war und Suzanne, Nathan und Jeff bereits an ihren Plätzen saßen, blieb es einen Moment still. Ich loggte mich in Neelys Account ein. Das Volumen meiner Spekulationen hatte nun endgültig eine Größenordnung erreicht, wo es dem Back-Office auffallen musste. Wahrscheinlich rätselten die Kollegen dort jetzt schon, was die automatischen Warnungen bedeuteten, die ich dadurch verursacht hatte, dass ich in dieser Nacht meinen Einsatz nochmals erhöht hatte. Doch eine Chance hatte ich vielleicht noch: Neelys Account galt weiterhin als Account eines Mitarbeiters von Rutherford & Gold. Wenn es mir gelang, aus diesem Mitarbeiter-Account einen Kunden-Account zu machen, würde es so aussehen, als ob die Positionen nicht im Verantwortungsbereich der Bank lägen. So könnte ich noch mal Zeit gewinnen. Ich nahm das Telefon und rief Brittany Page an, die Chefin des Back-Office.
»Brittany, hier ist Jasper. Lüdemann. « »Ach, hallo, Jasper. Guten Morgen.«
»Guten Morgen, Brittany. Willkommen zurück.«
»Ja, waren schöne Monate, so ruhig.« Im Gegensatz zu meinem, ist dein Job auch ruhig, du blöde Kuh, hätte ich am liebsten gesagt, hatte mich jedoch unter Kontrolle und fragte:
»Wie geht es denn Jordan und ... wie heißt das neue?«
»Marjorie.«
»Marjorie. Schöner Name.« »Was kann ich für dich tun?«
»Wir hatten hier einen ... Rausschmiss. Einer der Trader ist gegangen. Ich habe die Positionen seiner Kunden übernommen und sehe gerade, ich habe da ein, zwei Sachen falsch gebucht. Große Long-Straddle-Positionen von HST und so. Die sind noch in unseren Büchern, obwohl sie einem Kunden gehören«, sagte ich und versuchte so beiläufig wie möglich hinzuzufügen: »Nur, dass ihr euch nicht wundert, wenn es da eine Warnmeldung gibt.«
»Wie heißt der Trader?«
»Chris Neely. Ich bringe das heute in Ordnung.«
Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, wirklich clever gewesen zu sein. Wenn meine Kollegen einen Fehler machten, versuchten sie es zu vertuschen. Was sie nicht wussten: Bei Brittany war das genau falsch. Am wenigsten misstraute sie den Tradern, die ihre Fehler von sich aus zugaben. Nun musste ich nur noch Chris Neelys Account in den eines Kunden umwandeln. Mit meiner Sicherheitsstufe durfte ich das nicht. Ich brauchte die Zugangsdaten von jemandem mit einer höheren Security-Clearance. Natürlich hätte ich versuchen können, mit einer Hackerattacke an diese Zugangsdaten zu kommen. Wie man sich das so vorstellt, mit spoofing oder rainbow-cracking, Trojanern und phishing. Doch wenn Brittany noch genauso tickte wie früher, hatte dieses kleine Schwätzchen gereicht.
Wie wir alle, musste auch Brittany ihr Passwort wöchentlich ändern, war dabei jedoch so oft durcheinander gekommen, dass sie sich ein System zurechtgelegt hatte: Sie nahm den Namen ihres Sohnes - deswegen erinnerte ich überhaupt,
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