Das War Ich Nicht
Renaissancegemälde hatte einen Pfeil abgeschossen und mich ins Herz getroffen. Ich war verliebt und hatte keine Chance.
Ich hatte immer angenommen, dass die Single-Phase, die nach Andrew begonnen hatte, nur ein Intermezzo war. Nun dauerte dieses Intermezzo schon mehr als 15 Jahre. Jasper würde es nicht beenden, das Intermezzo war zum Rest meines Lebens geworden. Ich dachte an den roten Notfallumschlag, den ich fast ein Jahr mit mir herumgetragen hatte. Ausgerechnet jetzt lag er in meiner Minibar im Hotel. Hätte ich ihn dabei gehabt, ich hätte Elton John angerufen, sofort, obwohl es in London jetzt mitten in der Nacht war.
MElKE
Ich warf mich gegen die schwere Tür, sog ein letztes Mal die feuchte, heiße, drückende Palmenluft ein, dann nahm mir die Kälte den Atem. Dennoch rannte ich, Minuten mussten es gewesen sein, bald merkte ich gar nicht mehr, wie außer Atem ich war, denn nun musste es gelingen. Dort vorne rannte Henry LaMarck, meine Chance auf das Manuskript.
Schließlich verlangsamte er seinen Schritt, hielt sich die Seiten, sodass auch ich langsamer werden konnte und mir, nunmehr im Gehen, den Mantel anzog und schließlich stehen blieb, um meine Mütze aufzuheben, die in den Schneematsch gefallen war. Langsam gewöhnte meine Lunge sich an die Kälte.
Henry LaMarck setzte sich auf eine Bank, kaum eine Straßenecke von mir entfernt. Er lehnte sich zurück und sah Richtung Süden, weg von mir, wandte mir seinen Hinterkopf zu, den graues, fast weißes Haar bedeckte. Henry LaMarcks Haar war doch fast noch schwarz gewesen. War er das überhaupt? Oder nahm ich gerade in Windeseile weitere Stufen in Richtung eines kompletten, halluzinierenden Wahnsinns?
Da sah er kurz in meine Richtung. Kein Zweifel, es war Henry LaMarck. Das Lachen von Thorsten Fricke hallte durch meinen Kopf. Das amüsierte, gut gelaunte Lachen, das er in seinem geheizten Büro gelacht hatte, als ich ihn fragte, ob er mir die Reise nach Chicago bezahlen würde. Ich stellte mir vor, wie er dagesessen hatte, sich meine Geldsorgen anhörte und fragte, was ich denn zu tun gedachte, wenn ich Henry LaMarck wirklich fand. »Hahaha.«
Ich sollte einfach an Henry LaMarck vorbeigehen und direkt in meine Klosterpension, sollte meine Sachen packen, heimlich abreisen und die letzte Nacht am Flughafen verbringen. Dann wäre mein Geld zwar aufgebraucht, aber wenigstens würde ich es noch nach Hause schaffen, in mein Haus in Tetenstedt, nach dem ich zum ersten Mal so etwas wie Heimweh verspürte.
Da wandte er wieder seinen Kopf in meine Richtung und sah mich an. Seinen Mantelkragen hatte er hochgeschlagen, die Hände in den Taschen vergraben. In diesem Mantel, den er auf der LaSalle Street so elegant und cool getragen hatte, wirkte er nun seltsam verloren, wie ein Haustier, das in dieses Kleidungsstück gekrabbelt war und nicht mehr herausfand.
Hinter der Bank, auf der er saß, war ein Klamottenladen für junge Mode, vor dessen poppig buntem Gute-Laune-Design sein Gesicht noch trauriger wirkte. Auf seiner Stirn erkannte ich schwarze verschmierte Farbe, Tinte vielleicht? Hatte er gerade seinen Jahrhundertroman beendet, und nun trieb es ihn, erschöpft, ergraut und ermattet von dem schmerzhaften Loslösungsprozess, hinaus in die Welt?
Ich konnte nicht vorbeigehen, diesen Fehler hatte ich schon mal gemacht. Ich kramte die Sätze hervor, die ich mir zurechtgelegt hatte, murmelte vor mich hin: »Sie kennen mich nicht, Meike Urbanski, ihre deutsche Stimme ... «, wollte gerade den Mund öffnen, da lächelte er mich an und sagte:
»Hallo.«
HENRY
Als ich die Mütze der Chicago White Sox auf ihrem Kopf sah, war alles klar. Das war die Frau von der LaSalle Street. Parker Publishing bewies Gespür für den richtigen Moment: Sie hatten gewartet, bis ich wirklich Hilfe brauchen konnte. Alles beichten musste. Dass es mit dem Roman nichts wurde. Und nun, wo es nicht mehr schlimmer kommen konnte, schickte mir der Verlag seinen rettenden Engel.
»Hallo.«
»Hallo«, sagte auch sie.
»Ich wusste, dass Sie kommen werden. Setzen Sie sich doch.« »Danke«, sagte sie und nahm Platz, genau wie ich, ohne den Schnee vorher von der Bank zu fegen.
Sie sagte nichts, sah mich durch ihre beschlagenen Brillengläser an und versuchte ein Lächeln. Gracy Welsh hatte dem rettenden Engel sicher die Anweisung gegeben, sensibel vorzugehen. Da auch ich nicht wusste, was ich sagen sollte, holte ich das Tütchen mit den Wasabinüssen heraus, das das Zimmermädchen auf meinen
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