Das Washington-Dekret: Thriller (German Edition)
nicht noch einmal vorkommen würde. Das hätte sie getröstet. Aber niemand kam. Dafür war es noch zu früh am Tag. Erst nachts liefen die zwei zu Höchstform auf. Dann hatten sie eine große Klappe. Aber auf die Idee, ihr zu sagen, dass es ihnen leidtäte,nicht besser auf den Bruder aufgepasst zu haben, und dass sie ihre Mutter liebten, würden sie auch dann nicht kommen.
Alle zwei Minuten nahm sie Anlauf, biss sich auf die zitternden Lippen und wollte sich den Berg Rechnungen auf ihrem Schreibtisch vorknöpfen. Durch den Ausnahmezustand war Mo Goldenbaums Export-&-Import-Firma ernstlich in Schwierigkeiten geraten. Wenn es so weiterging, würde der Chef bald allein im Büro sitzen. Im Augenblick brütete er über dem Dispositionskredit, und Rosalie wusste, wie der Kampf ausgehen würde, wenn nicht bald etwas Entscheidendes passierte. Sie blickte hinüber zu ihrem Kollegen Henry, zuständig für den Bereich Fracht und Shipping. Von dreißig Angestellten waren nur noch sie beide übrig. Seit zwanzig Jahren lagen nur zwei Meter zwischen ihnen, und doch wusste sie so gut wie nichts über ihn. Ob Henry sie verstehen und trösten würde, wenn sie zu weinen anfinge? Aber Henry entfernte den Blick nicht von seinem Bildschirm, auch er kämpfte ums Überleben. Die Berufsaussichten waren schlecht, wenn man die fünfundvierzig überschritten und nie etwas anderes getan hatte, als Container zwischen Punkt A und Punkt B hin- und herzuverschieben.
Sie atmete tief durch. Hatten sich ihre Eltern je beklagt, obwohl sie die Hälfte ihrer Kinder verloren hatten? Nein. Nie hatte sie erlebt, dass sie in Trauer versunken waren. Sie hatten doch immer noch Kinder, um die sie sich kümmern mussten. Also gab es auch Hoffnung, das war ihre Devise im Leben. War ihre Situation nicht genauso? Sie hatte doch immer noch zwei prächtige Söhne und damit auch eine große Verantwortung. Nein, Henry war nicht der Einzige, der sich zusammenreißen musste, damit nicht alles den Bach runterging.
Hinter der Glasscheibe, die sie vom Büro des Chefs trennte, waren Flüche und Verwünschungen zu hören. Manchmal bekam er vor lauter Wut einen feuerroten Kopf. Wäre ich dochbloß in Südafrika geblieben, schrie er dann. Sie sah auf die Uhr. Er hört also wieder Radio, diesen Langwellensender, dachte sie. Warum lässt er das nicht? Das nützt ja doch nichts!
Da hob Mo Goldenbaum die Hand, erstarrte aber mitten in der Bewegung. Er schien nicht mehr zu atmen, das dunkelrote Gesicht wurde schlagartig kreidebleich. Jetzt hat er doch einen Schlaganfall bekommen, dachte sie und sprang auf. Henry hatte es offenbar auch gesehen, sie stürzten gemeinsam in Mo Goldenbaums Büro.
»Was ist passiert?«, rief Henry, aber der Chef winkte abwehrend.
»Hört zu«, sagte er nur. Seine Gesichtsfarbe näherte sich langsam wieder der normalen.
Rosalie ließ sich schwer auf den wackeligen Besucherstuhl sinken. Noch mehr schlechte Nachrichten konnte sie heute nicht verkraften.
»Hört zu, was der Idiot sagt.«
Die Stimme des Präsidenten klang ruhig. Er konnte einem auch ohne Blickkontakt Nähe suggerieren. Wie eine tröstende Hand, die im entscheidenden Moment ausgestreckt wird.
»Heute Morgen erfüllte sich unsere sehnlichste Hoffnung«, sagte er. »Unsere tüchtigen Ermittler in New York konnten um acht Uhr Ortszeit den Dachmörder am Rand der Fordham University lokalisieren, wo er auf sein nächstes Opfer wartete. Nach kurzem Schusswechsel traf ihn ein Projektil vom selben Kaliber, mit dem er lange Zeit Furcht und Schrecken verbreitet hat. Er was sofort tot, weshalb das Motiv für seinen wahnsinnigen Terror weiter im Dunkeln bleibt.«
»Ach du liebe Güte, er ist tot«, sagte Henry leise und hielt sich an der Tischkante fest.
»Da hat Jansen aber Glück gehabt!«, schnaubte Mo Goldenbaum.
Henry nickte. So kommentierte er alles, was Mo Goldenbaum sagte.
»Der Sprecher des FBI hat soeben erklärt, der Durchbruch bei den Ermittlungen habe sich ergeben, als die Volkszählung in Brooklyn die Gegend um Prospect Park erreichte. Als der Inspektor zur Wohnung des Täters kam, bat er ihn wie vorgeschrieben um seinen Fingerabdruck. Ihm fiel auf, wie nervös der Mann reagierte. Wir haben es mit Inspektoren zu tun, die früher im Gefängniswesen oder allgemein mit Kriminellen gearbeitet haben, und das ist von entscheidender Bedeutung – in diesem Fall beschloss man sofort die Hausdurchsuchung. Bei der Gelegenheit fanden sich zahlreiche Indizien, die darauf hindeuteten, dass
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