Das Washington-Dekret: Thriller (German Edition)
war es zu spät.
Das Telefon klingelte, Mo Goldenbaum nahm ab und gab ihr durch Zeichen zu verstehen, dass sie übernehmen solle.
Es war die Polizeiwache an der Barkley Avenue. Der Beamte war sehr förmlich, und er hatte schlechte Nachrichten. James und Dennis waren festgenommen worden, als sie auf offener Straße zwei Dealer verprügelten. Einer der Männer war noch bewusstlos, würde sich aber voraussichtlich erholen. Die Jungen behaupteten, die Männer hätten ihrem toten Bruder das Heroin verkauft. Die Polizei zeige Verständnis, so der Beamte, aber dem Recht müsse Genüge getan werden. Ihre Söhne seieneinem Richter vorgeführt worden. Ob sie gleich kommen und Kaution hinterlegen wolle? So wie die Dinge standen, konnten sie keinen dortbehalten, der sich nichts Gravierendes hatte zuschulden kommen lassen. Rosalie schwieg so lange, dass der Polizist nachfragen musste.
»Gleich zu Ihnen kommen? Nein, das glaube ich nicht. Aber danke«, antwortete sie schließlich und legte vorsichtig auf. Sie hob den Kopf und betrachtete die unwirkliche Szenerie des leeren Büros. Henry nickte ihr zu, als wollte er sagen, dass alles in Ordnung sei. Nur Mo hatte den Zusammenbruch kommen sehen.
Als die Tränen erst einmal flossen, konnte sie gar nicht mehr aufhören zu weinen. Mo und Henry gaben sich alle Mühe, sie zu beruhigen, aber es gelang ihnen nicht, und sie akzeptierten es. Die Trauer muss raus, hatte Mo gesagt.
Zur Trauer kam die Hilflosigkeit: Fünf Jahre lang hatte Rosalie jetzt gespart, so gut es ging, aber viel war nicht zusammengekommen. Sie hatte geglaubt, ihr Traum von einem friedlichen Leben bei ihrer Schwester könne sich eines Tages erfüllen, aber der Traum war nun zunichtegemacht. Das bisschen, was sie zur Seite legen konnte, würde kaum für Franks Beerdigung reichen, geschweige denn für eine Kaution. Was sollte sie nur tun?
Mo stand kopfschüttelnd hinter der Scheibe. Bestimmt hätte er ihr geholfen, wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, und Henry genauso. Aber die hatten sie nicht, das wusste sie. Genauso wenig wie alle anderen, die sie kannte.
»Mo, kann ich gehen?«, fragte sie durch die Gegensprechanlage. »Ich mache dafür am Montag Überstunden.«
Sie drückte ihre Tasche an sich und schob sich an den Demonstranten vor einer Filiale von Jansen’s Drugstores vorbei. »Nur Landesverräter kaufen hier«, stand auf den Schildern.Die Polizisten hielten lediglich eine schmale Gasse frei, falls doch jemand in den Laden gehen wollte. So war es schon seit Wochen. Wenn jemand durch den Ausnahmezustand persönliche Verluste erlitten hatte, dann vor allem der Präsident. Da konnte der Chor der anderen Aktienbesitzer, die mit ansehen mussten, wie die Kurse abstürzten, ganz still sein.
Rosalie betrachtete die Fassade des Grand Central Terminals. Soweit sie wusste, brauchte der Acela-Express von New York bis Washington keine drei Stunden. Die Fahrkarte würde alles kosten, was sie in der Tasche hatte, aber sie sah keinen anderen Ausweg: Sie brauchte Geld, und das musste Doggie ihr leihen. Zweitausend Dollar waren für Doggie sicher nicht die Welt.
Rosalie sah auf ihre kleine Armbanduhr. Es war erst zwei. Um achtzehn Uhr konnte sie vor Doggies Büro stehen.
Sie ging an den Lieferwagen der FEMA vorbei zum Kontrollposten. Bestimmt ist sie jetzt bei der Arbeit, dachte Rosalie. In Washington werde ich die Wachposten dazu bewegen, Doggie vor das Weiße Haus zu holen, und wenn sie mich sieht, freut sie sich bestimmt. Ich leihe mir zweitausend von ihr, nein, vielleicht viertausend. Und dann bin ich noch vor Mitternacht wieder zu Hause. Wenn ich auf der Wache in der Barkley Avenue anrufe, können sie mir erklären, wie es weitergeht. Ob ich heute Nacht kommen und die Jungen abholen kann. Die können mir auch sagen, was ich mit Franks Leichnam machen muss.
Um eine Weile nicht an ihren Sohn denken zu müssen, der steif und einsam in einem eiskalten Raum lag, fixierte sie die Soldaten, die am Eingang die Taschen der Menschen kontrolierten. Sie sah ihre harten, wachsamen Augen. Im Augenblick hätte sie sich auf alles konzentriert, nur um nicht loszuschreien.
Sie ging direkt auf den mittleren Eingang zu und streckte den beiden Soldaten, die dort Wache hielten, die Tasche hin. »Ihre Platzkarte, M’am, dürfen wir Ihre Platzkarte sehen?«
Ein einziges Wort, und die Erinnerung an Frank war wieder da. An Franks sanftes Lachen, das vor langer Zeit einmal ihren ekelhaften Ehemann vom Zuschlagen abhalten konnte. Und
Weitere Kostenlose Bücher