Das Washington-Dekret: Thriller (German Edition)
daran, dass sein Körper in der Kälte lag. Platzkarte, hatten sie gesagt, aber in Rosalies Kopf ging alles durcheinander. Sie hatte die Straßensperren gesehen und sie hatte von furchtbaren Dingen gehört, die überall passierten. Sie hatte die brennenden Autoreifen an den Barrikaden gerochen. Wieso konnte es sie dann trotzdem so unerwartet treffen, dass nichts war, wie sie es erwartet hatte? Wie hatte sie glauben können, sie könne einfach, wenn es ihr gerade passte, in einen Zug nach Washington steigen und Doggie um Hilfe anbetteln? Sie, die ihr nicht einmal ein tröstendes Wort geschickt hatte, als Doggies Vater verhaftet wurde. Hatte sie etwa geglaubt, für sie würden andere Bedingungen gelten?
In diesem Augenblick war es Rosalie, als griffe eine eisige Hand nach ihrem Herzen. Sie holte tief Luft und hob den Arm zur Brust, den anderen streckte sie nach dem zunächst stehenden Soldaten aus. Die Männer schrien sie an, aber sie hörte nichts. Sie taumelte zur Seite, ein paar Hinzueilende wollten sie auffangen, konnten sie aber nicht halten. Rosalie war es gleichgültig. Sie sah nur Frank vor sich, nachts im Weir Creek Park, langsam atmend und langsam sterbend.
»Ach, mein kleiner Junge«, jammerte sie, »ach, mein geliebter Junge, was haben wir dir angetan?«
22
Sie war sich so sicher gewesen, dass T. Perkins zurückrufen würde. Aber inzwischen waren schon fast zwei Tage vergangen. Dennoch gab sie nicht auf und hoffte stündlich auf seinen Anruf.
Wegen der hohen Arbeitsbelastung hatte Lance Burton an diesem Samstag das gesamte Personal des Westflügels ins Weiße Haus zitiert. Die meisten waren schon um sechs Uhr morgens angetreten. Zwei Tage zuvor hatte man ein Attentat auf Jansen verübt, und in der Folge wurden allen Mitarbeitern unzählige Fragen gestellt, um selbst die unscheinbarsten Details offenzulegen. Am Vortag hatten sie fast den ganzen Tag in ihren Büros gesessen und darauf gewartet, zum Verhör gerufen zu werden. Die Leute vom Secret Service waren nicht so schnell zufriedenzustellen. Hier ging es um Sicherheit; so etwas durfte sich nicht wiederholen. Über den Attentäter gab es keine Angaben. Wahrscheinlich wussten sie selbst nichts.
Einige von Ben Kanes Leuten und ein Verhörexperte aus dem Sicherheitsministerium knöpften sich die Angestellten dem Rang nach vor. Erst das Personal rings um das Oval Office, dann Burtons und Sunderlands Mitarbeiter, dann die von Donald Beglaubter und Wesley Barefoot. Nach diesem Muster arbeitete man sich durch sämtliche Büros und Arbeitszimmer. Der Tag würde lang werden. Doggie würde als eine der Letzten drankommen. In der Zwischenzeit musste sie unbedingt Perkins erreichen. Wenn sie für die Hinrichtung keinen Aufschub erwirken konnten, war in weniger als sechzig Stunden alles vorbei.Um fünf vor sechs hatte sie am Morgen den Pförtner passiert, und schon da war klar, dass Jansen wieder im Weißen Haus war. Man konnte es spüren. Als wäre seine Gegenwart der Herzschlag des Hauses. Also war er nicht ernsthaft verletzt worden. Am Vortag hatten Gerüchte die Runde gemacht, der Präsident sei schwer verletzt und der Attentäter, der die Handgranate geworfen hatte, noch am Tatort getötet worden. Zusammen mit zwei anderen Männern, möglicherweise Sicherheitsbeamte, hatte jemand vorsichtig gemutmaßt. Mehr wusste Doggie nicht.
Zwei von Kanes Männern nahmen die Mitarbeiter in der Lobby in Empfang und baten sie, in ihre Büros zu gehen und dort zu warten, bis sie zur Vernehmung abgeholt würden. Genau wie am Tag davor.
So still wie an diesem Samstag war es im Weißen Haus wohl noch nie gewesen. Die Angestellten saßen tatenlos da, erst wenn nachgewiesen war, dass sie eine weiße Weste hatten, würde die Lähmung nachlassen.
Ob ihre Kollegen nun vielleicht etwas besser verstanden, wie sie sich fühlte?
Sie überlegte, Wesley anzurufen, ließ es aber bleiben – sie wollte ihm nicht schaden. Obwohl dieser Tage wohl kaum jemand primär an seine Karriere dachte, war es der seinen sicher nicht förderlich, wenn er mit Doggie in Verbindung gebracht wurde. Wenn sie in diesem bis in alle Winkel überwachten Mausoleum seine Hilfe wollte, musste sie diskret vorgehen. Also keine Anrufe.
Sie stand auf, klemmte sich eine Mappe unter den Arm und marschierte zielstrebig zu Wesleys Büro. Von dort bis zum Oval Office, wo Präsident Jansen sich vermutlich aufhielt, waren es höchstens dreißig Meter. Sie wusste, dass sie auf eine Mauer aus grauen und schwarzen Jacketts,
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