Das Washington-Dekret: Thriller (German Edition)
der Gäste hinweg, O’Neills roter Ärmel, als er an dem Gobelinseil zog, sodass der Vorhang fiel. Dann zoomte der Kameramann an das Gemälde heran und filmte es ziemlich ausgiebig, als wolle er den Fernsehzuschauern seine Verblüffung über diese Peinlichkeit vermitteln. Dann schwenkte er zu Mimi Jansen, die sich dem Gemälde näherte. Sekundenlang wirkte sie, als würde sie losprusten, aber sie beherrschte sich, nickte und betrachtete eingehend das Bild, sie schien immer wieder um Fassung zu ringen. Dann wollte der Kameramannoffenbar auch Jansens Reaktion einfangen, aber sein Gesicht war in der Menge nicht auszumachen.
In dem Moment fiel der Schuss, die Gäste schrien hysterisch, drängten zurück und warfen den Kameramann um. Dann ertönte ein Schrei, vermutlich war das O’Neill. Die Stimme klang dünn, und aufgrund des generellen Geräuschpegels konnte T. trotz mehrmaligen Abspielens der Sequenz nicht heraushören, was da gerufen wurde. Die Aufnahmen wurden unscharf, dann knallte die Kamera auf den Boden und der Clip war zu Ende.
T. Perkins bemühte sich, die gesammelten Eindrücke unter einen Hut zu bekommen, was zu so vorgerückter Stunde mit müdem Kopf nicht einfach war. Er stand auf, warf zwei, drei Pfeile auf seine Dartscheibe, setzte sich wieder, gähnte und öffnete die letzte Videodatei.
»Nicht gesendete Aufnahmen/Kameramann Marvin Gallegos, NBC4« hieß sie. Es handelte sich dabei um zehn Minuten verwackeltes Filmmaterial von einer am Boden liegenden Kamera. Aber verwackelt oder nicht, ansehen musste er es.
Einige Stunden später weckte ihn das schrille Klingeln seines Festnetztelefons.
»Ja?«, sagte er, bemüht, möglichst wach zu klingen. Sein Wecker meldete Samstag, 28. März, 5.27 Uhr. Das frühe Aufstehen sollte wohl zur Gewohnheit werden.
Er rieb sich die Augen. Marvin Gallegos’ letzte Aufnahmen waren noch sehr präsent. In den Akten stand, Gallegos sei von einer Kugel getroffen worden und habe die Kamera fallen lassen, deshalb seien nur Beine, Hosen und Schuhe zu sehen. Deloitte hatte die Aufnahmen als surrealistisch und impressionistisch bezeichnet und als unbrauchbar verworfen.
T. Perkins dagegen hatte sehr genau hingesehen und Details bemerkt, die alles in Frage stellen konnten. Er fand die Aufnahmen ungeheuer brauchbar.
»T.? Bist du das? Ich bin’s, Dody!«, schrie es aus dem Hörer. »Du musst ganz schnell herkommen, T.! Wach auf! Leo Mulligan ist vollkommen durchgedreht. Du weißt, von wem ich rede!«
Perkins zwang die Augen noch ein Stückchen weiter auf. »Leo Mulligan, sagst du? Der ist doch vor einer Weile aus dem Knast entlassen worden. Bist du draußen bei ihm? Was ist da los?«
Am anderen Ende der Leitung knallte es zwei Mal, dann war dumpfes Gepolter zu hören. »Scheiße!«, rief Dody. »Ja, ich bin draußen auf seiner Farm. T., du musst sofort herkommen. O Gott, ich glaube, er hat den Vizesheriff und den neuen Kollegen erschossen!« Sie schnappte nach Luft. T. Perkins auch.
»Was sagst du? Welchen? Stanley oder Willie?«
»Willie! Und Stanley! Er hat auf beide geschossen! Sie liegen auf einem seiner Felder. O Gott, o Gott, T.! Ich glaube, sie sind tot!«
21
Nicht die Polizei überbrachte Rosalie die Nachricht, sondern ein Freund. Als er mit seiner Baseballkappe in der Hand vor der Tür stand und sie traurig ansah, hielt sie instinktiv die Luft an. »Sie haben Frank gefunden.« Er sprach langsam, so als sollte sie es nicht zu schnell begreifen. Erklärte, dass ihr mittlerer Sohn im Weir Creek Park mit glasigen Augen und fleckiger Haut unten am Wasser gelegen habe. Dass er bereits eine Weile tot gewesen sei, als man ihn fand.
Sie rief auf der Arbeit an und bat um Freistellung für den Tag. Weil sie den Grund nicht nennen wollte, bekam sie nur zwei Stunden zugestanden. Die Zeit hätte mit Weinen und Klagen vergehen können, aber sie schwieg und starrte ins Leere.
Natürlich war sie traurig, aber gleichzeitig auch erleichtert. Mrs. Fullbright im oberen Stockwerk hatte zweimal Besuch von der Polizei gehabt, und beide Male hatte sie mitkommen müssen, um ihre ermordeten Kinder zu identifizieren. Das war trotz allem noch schlimmer.
Rosalie Lees Sohn hatte sich im Grunde selbst umgebracht, und damit konnte sie besser leben.
Sie wartete so lange wie möglich, ehe sie sich auf den Weg machte. Sie hatte wohl gehofft, James und Denny würden nach Hause stürzen und ihr mit einer liebevollen Berührung, einem mitfühlenden Blick helfen und versichern, dass so etwas
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