Das Washington-Dekret: Thriller (German Edition)
Miene.
Wesley wollte sich erheben, vermochte es aber nicht. Nur zwei Meter von ihm entfernt saß der Vizepräsident und presste die Kiefer aufeinander. Beide Männer hatten als Präsidentschaftskandidaten um die Gunst derselben Wähler gebuhlt, und Lerner hatte den Kürzeren gezogen. Die Zusammenarbeit der beiden war einer Vernunftehe vergleichbar, der keine allzu lange Lebensdauer beschieden sein würde. Dass sie jedoch so schnell beendet werden sollte, hätte keiner vermutet.
»Ja, meine Damen und Herren«, sagte Lerner, »wie ich sehe, fehlen Ihnen die Worte. Aber das sind die Tatsachen. Alles, was Sie in diesem Haus sagen, wird aufgenommen und kann jederzeit gegen uns verwendet werden, wenn nötig. Das ist aber nur der erste Schritt. Warten Sie’s ab. Mit dem neuen Gesetzespaket sind wir auf dem Weg in eine Gesellschaft, in der alles und jeder rund um die Uhr überwacht wird. Stimmt’s nicht, Mister President?«
»Man muss das Ziel im Blick haben. Es geht um das Ziel«
Wesley sah zu Betty Tucker, die von allen die steilste Karriere hingelegt hatte. Auch sie schien von der Enthüllung gänzlich unbeeindruckt zu sein.
»Und Sinn und Zweck dieser Übung ist?«, fuhr Lerner fort.
»Sinn und Zweck dieser Übung ist Kontrolle«, entgegnete Jansen.
»Letzten Endes geht es also um Kontrolle?«
»Wenn man diese Gesellschaft ernsthaft verändern will: Ja!«
Lerner nickte, als habe er die Antwort früher schon einmal gehört.
»Aus dem Gesetzesvorschlag zur Herstellung von Recht und Ordnung geht hervor, dass es notwendig werden kann, gegen demokratische Prinzipien zu verstoßen. Sind Sie dazu bereit, Mister President?«
»Wenn nötig: Ja.«
»Sie würden also eine Zensur des Fernsehens erlauben?«
»Ja.«
»Den Menschen verbieten, Waffen zu tragen?«
»Nein. Dagegen spricht der zweite Zusatzartikel.«
»Aber ihnen verbieten, Munition für ihre Waffen zu kaufen?«
»Ja. Dagegen spricht der zweite Zusatzartikel nicht.«
»Sie würden Tausende von Gerichtsurteilen aufheben, indem Sie Amnestien erlassen?«
»Auch das, ja. Wir müssen in viel stärkerem Maße auf Resozialisierung setzen.«
»Und gleichzeitig Menschen hinrichten, die noch mehrere Berufungschancen hätten?«
»Ja.«
»Damit verlassen wir den bisherigen Pfad der amerikanischen Gesellschaft, das ist Ihnen klar, Mister President?«
»Wir verlassen ihn übergangsweise, ja.«
Der Vizepräsident schüttelte den Kopf. »Und wer dem nicht zustimmt, hat sich zu fügen?«
»Ja.«
Die folgenden Sekunden vollkommenen Schweigens brannten sich unaustilgbar in Wesleys Gedächtnis. Er fühlte sich überrumpelt und zitterte um alles, woran er glaubte. Wie gelähmt fühlte er sich, weil er nicht den Mumm hatte, sich zu erheben und zu gehen. Seine Füße rutschten über den Boden, aber er hatte keine Kraft in den Beinen. Er schaffte es kaum, den Kopf zu heben und seinem Präsidenten in die Augen zusehen. Dem Mann, in dessen Macht es stand, all das wirklich passieren zu lassen. Ihm in die Augen zu sehen und zu verstehen zu versuchen. Warum? »Damit verlassen wir den bisherigen Pfad der amerikanischen Gesellschaft«, hatte Lerner gesagt, und das war noch milde ausgedrückt.
Noch immer schwiegen alle. Bruce Jansen hatte auf fast alle Fragen mit Ja geantwortet – was gab es da noch zu sagen?
Jansen erhob sich. Langsam. Wie Eis, das aus der Tiefe des Meeres aufsteigt. Sein Blick war düster, als er sich in voller Größe vor ihnen aufbaute.
»Michael«, sagte Jansen und hielt dann inne, bis der Vizepräsident seinem Blick begegnete. »Unsere Aufgabe besteht darin, aus unserem Land ein besseres Amerika zu machen. Seit jeher haben wir uns gegen Feinde von außen zu Wehr setzen müssen, und das hat viele, viele Opfer gekostet. Aber es hat Amerika auch zu einem freien Land gemacht. Wenn wir die Vereinigten Staaten auch in zwanzig Jahren noch ein freies Land nennen wollen, dann müssen wir jetzt sofort etwas gegen den Feind in unseren eigenen Reihen tun.«
Die Miene des Vizepräsidenten versteinerte.
»Sie wissen, wer dieser Feind ist, Michael, oder? Er hat so viele Namen. Mafia, Miliz, Kriminalität, Waffenmissbrauch, Missbrauch der freien Meinungsäußerung, Gewalt, Übergriffe, Machtmissbrauch.« Jansen blickte in die Runde und nickte. »Er hat viele Namen und viele Gesichter. Viel zu viele Menschen sind schon zu tief darin verstrickt, und darum können natürlich nicht alle mit uns dagegen ankämpfen.«
»Das klingt ja alles schön und gut.« Lerners
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