Das Washington-Dekret: Thriller (German Edition)
niemandwürde auf die Idee kommen, dass sie in einem der übelsten New Yorker Viertel geboren und aufgewachsen war. Ihr Mann war Soldat gewesen, sie hatte ihn verloren, noch bevor sie Kinder bekommen hatten.
Rosalie sah Josephines Umgebung vor sich. Die unbefestigten Straßen, den endlosen Himmel, das kleine grüne Haus, die riesigen Bäume auf der einen und die weiten Felder auf der anderen Seite. Josephine war arm, aber sie lebte im Paradies, und darum beneidete Rosalie sie mehr als je zuvor.
Doch was Josephine ihrer Schwester erzählte, klang alles andere als beneidenswert. Eine Woche lang hatte sie nicht gewagt, sich von ihrem Haus zu entfernen. Im Wald hinter dem Haus hatte es Schießereien gegeben. Das schien zwar vorbei zu sein, aber eine ganze Reihe von Häusern und Farmen waren von Uniformierten aufgesucht worden. Und wenn die erst mal drin waren, nahmen sie alles auseinander, und dann gnade Gott denen, die Waffen versteckt hatten oder Menschen, die vor den Behörden auf der Flucht waren.
Rosalie wusste, wovon ihre Schwester sprach. Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, wie oben in East Tremont Menschen zusammengetrieben und auf Lkw verladen worden waren. Entsetzte Menschen, die zum Verhör transportiert wurden. Menschen, die von ihren Nachbarn oder gar ihren eigenen Kindern oder Ehepartnern denunziert worden waren. Niemand konnte mehr irgendwem trauen.
Am zwanzigsten März, dem ersten Frühlingstag des Jahres, war ein hohes Kopfgeld auf den Dachmörder ausgesetzt worden. Mit Baseballschlägern, schusssicheren Westen und Helmen ausgestattete Jugendliche streiften seitdem durch die Straßen und sahen beständig nach oben. Sie bildeten Gruppen, die bereit waren, Selbstjustiz zu üben, und hatten sich Namen wie »Die Rächer von Knightsbridge« oder »Die Kreuzfahrervon Featherbed« gegeben. Sie schienen wild entschlossen, die fünfzehn Millionen Dollar einzustreichen, um endlich rauszukommen und den Rest des Lebens auf Kosten des Staates zu genießen. Einen von ihnen, einen jungen Farbigen namens Humberto Morales, traf eine Kugel direkt in den Hals. Er fiel in die Arme seiner weiß gekleideten Kameraden, und Fotos seines Blutes auf deren weißer Kluft prangten auf den Titelseiten der wenigen noch erscheinenden Zeitungen. Ein Textilfabrikant aus den Flatlands verteilte Tausende weißer T-Shirts mit roten Spritzflecken, und Transparente mit Slogans wie »Es lebe Humberto« und »Wir sind alle Humbertos« prägten das Straßenbild. Das Ganze entwickelte sich zu einer absurden Treibjagd mit Volksfestcharakter. Die Soldaten hielten sich heraus, obwohl jeden Tag aufs Neue unschuldige Menschen betroffen waren.
Rosalie ermahnte ihre Söhne, auf keinen Fall hinauf aufs Dach zu gehen, um einen Joint zu rauchen. Die Kopfgeldjäger würden auf alles schießen, was sich da oben bewegte.
Auf gute Nachrichten hoffend, schaltete sie den Fernseher ein. Nach den Berichten von den Krisensitzungen der Großkonzerne folgten die Interviews mit den wenig optimistischen Börsenexperten. Danach trat zwei Mal pro Woche Wesley Barefoot vor die Kameras und erklärte im Presseraum des Weißen Hauses den Journalisten und Bürgern das Ziel all dieser Maßnahmen und warum sie unbedingt Ruhe bewahren sollten.
Rosalie vertraute Wesley. Schließlich war er ihr Wesley von der Chinareise, jung und aufrichtig, mit strahlendem Blick und Worten, die sie restlos überzeugten. Drei Mal pro Woche flimmerte Präsident Jansen abends über den Bildschirm und sprach zum Volk. Erklärte, warum die Dinge so waren, wie sie waren, sah eindringlich und sehr ruhig in die Kameras und erläuterte, wie die Regierung daran arbeitete, Amerika in eine neue, sichere Ära zu überführen, und warum sie alle bereitsein müssten, dafür Opfer zu bringen. Er und Wesley Barefoot waren ein gutes Team, fand Rosalie.
Ihr Arbeitgeber Mo Goldenbaum von Mo Goldenbaum’s Export & Import war im Gegensatz zu ihr ganz bestimmt kein Fan von Jansen. Zusammen mit seinen beiden Brüdern war er aus Südafrika in die USA gekommen. In seiner Heimat nahm man kein Blatt vor den Mund. Wenn er meinte, dass Jansen ein Schwein und ein Narr war, dann sagte er das auch. Wenn er sich wünschte, ein Konkurrent möge Blut spucken, dann zischte er ihm das ins Gesicht. Bis jetzt hatte Goldenbaum den Präsidenten noch nach jedem Fernsehauftritt einen Lügner, Faschisten und Kommunisten geschimpft. Er hörte Langwelle und redete sich über alles gern in Rage, von der akuten Krise der
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