Das Weinen der Engel (German Edition)
überhaupt nicht mehr an die Schießerei gedacht und welchen Schrecken ihr die Erinnerung einjagen würde.
Ihr Herz begann zu hämmern, ihre Handflächen wurden feucht. Ihr erster Blick fiel auf den Boden des Flurs, aber da lag niemand. Keine Spur von dem Mann, den sie in jener Nacht erschossen hatte. Kein Blut oder andere Anhaltspunkte, dass hier in ihrer Wohnung so etwas passiert war.
Alles war sauber und an seinem Platz. Marge hatte sich offensichtlich darum gekümmert. Die Küche blitzte, die Kissen auf der Wohnzimmercouch waren geordnet und die Bettdecken zurückgeschlagen, als warteten sie auf Chrissys und ihre Rückkehr.
Lark atmete erleichtert aus. Langsam normalisierte sich ihr Herzschlag wieder, und sie beruhigte sich.
Dev trug die Kleine über den Flur ins Kinderzimmer, und Lark folgte ihm. Er legte das schlafende Kind vorsichtig in das schmale Bett. Chrissy rührte sich, blinzelte, sah sich um, als überlegte sie, wo sie sich befand.
Dann riss sie plötzlich verschreckt die Augen auf. „Onkel Dev, ich habe Angst!“
Dev setzte sich auf die Bettkante neben sie und strich ihr das dunkle lockige Haar aus der Stirn. „Es ist alles in Ordnung,
muffin
. Du bist zu Hause und in Sicherheit. Die bösen Männer sind weg. Niemand wird dir wehtun.“
Sie sah ihn skeptisch an. „Ganz bestimmt?“
„Ganz bestimmt.“
„Woher weißt du das? Bleibst du hier und passt auf uns auf?“
Ein merkwürdiger Ausdruck huschte über sein Gesicht. „Ich werde heute Nacht hier sein, du brauchst dir also keine Sorgen zu machen, okay?“
Lark zog es das Herz zusammen.
Eine Nacht
. Eine weitere Nacht war alles, was sie noch hatten.
Chrissy legte sich entspannt zurück. „Okay.“
„Deine Mommy wird dich noch zudecken, in Ordnung?“
Sie nickte. „Gute Nacht, Onkel Dev.“
Er beugte sich vor und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Gute Nacht,
muffin
.“
Lark ging zu ihr und setzte sich auf die Bettkante, wo Dev vorher gesessen hatte.
„Ich hole das Gepäck“, sagte Dev und war verschwunden.
„Wird Onkel Dev bei uns wohnen?“, fragte Chrissy hoffnungsvoll.
Lark schnürte es die Kehle zu. „Nein, meine Süße. Aber dein Onkel Dev und seine Freunde haben die bösen Männer verjagt. Sie werden nicht mehr zurückkommen, also brauchst du auch keine Angst mehr zu haben.“
„Wirklich?“
„Wirklich.“
„Er ist so mutig.“
Sie zwang sich zu lächeln. „Ja, das ist er.“
„Ich will, dass er hierbleibt.“
Tränen brannten ihr in den Augen. Sie hoffte, dass Chrissy es nicht sehen würde. „Ich auch, meine Süße.“ Sie zog ihr die Decke über die Schultern, lehnte sich vor und küsste sie auf die Wange. „Gute Nacht, mein Liebling.“
Chrissys Augen fielen zu, die langen dichten dunklen Wimpern warfen Schatten auf ihre runden Wangen. Nach dem, was vorgefallen war, hatte Lark befürchtet, dass die Kleine Angst haben könnte, allein in ihrem Zimmer zu schlafen. Aber Chrissy fürchtete sich nicht mehr. Sie hatte eine Entführung überlebt und im Haus eines Drogendealers geschlafen. Bei Gracie im Gästezimmer, in dem kleinen mexikanischen Haus, hatte sie auch allein ein Schläfchen gehalten. Sie hatte in einem schäbigen Motelzimmer übernachtet, ohne zu murren. Für eine Vierjährige war sie wirklich erstaunlich.
Lark lächelte wehmütig. Chrissy würde auch lernen, ohne Dev zu leben. Genauso wie sie sich daran gewöhnt hatte, dass ihre Nanny und ihre Eltern nicht mehr da waren. Sie würde alles überstehen und sich bestens entwickeln.
Lark wünschte, ihr würde es ebenso gehen. Aber für sie endete die Liebe zu einem Mann nicht in dem Moment, wo sie ihn nicht mehr sah.
Eines wusste sie genau: Dev Raines zu verlieren würde das Schlimmste sein, was sie jemals erlebt hatte.
Der Sturm wurde stärker, wilder. Der Regen hämmerte auf die Metallregenrinne wie auf eine jamaikanische Steeldrum.
Dev saß im Wohnzimmer auf dem Sofa, lehnte sich zurück und schloss die Augen, eingelullt von dem stetigen Klopfen. Es war seine letzte Nacht mit Lark, das letzte Mal, dass sie zusammen waren. Der Gedanke schnürte ihm die Kehle zu.
Als er das leise Klicken einer sich schließenden Tür hörte, setzte er sich auf. Lark kam über den Flur zu ihm ins Wohnzimmer.
„Schläft sie?“, fragte er.
„Sie war erschöpft.“ Lark sah ihn an. „Sie wird dich vermissen, Dev.“
Er betrachtete ihr Gesicht, als wolle er sich all die sanften Formen, geschwungenen Linien, diese vollen Lippen und die schönen
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