Das weingetränkte Notizbuch: Stories und Essays 1944-1990Fischer Klassik PLUS (German Edition)
bedeuten. Lachen Sie ruhig. Ich nehme alles Geld, das ich von Ihnen kriegen kann, werde mir aber immer darüber im Klaren sein, dass ich im Grunde nichts habe. Wenn die Reichen die Krone der Menschheit sind, dann will ich schnell raus hier.
Ich habe die blanken Knochen der Köpfe toter Schweine mit toten Äpfeln im Maul gesehen, und sie waren weniger hässlich; gar nicht hässlich waren sie im Vergleich. Da saß ich also am Tisch in der Bibliothek, verging vor Hunger im Licht der Sonne. Alles drang auf mich ein: der Scheißkrieg, der Stumpfsinn, der Tod, das Fliegengebrumm …
Damals war ich jung und wusste nicht weiter; jetzt bin ich alt und weiß nicht weiter. Ich saß da, umgeben vom Wissen der Jahrhunderte, und es nützte mir gar nichts, kein Lebender hatte mir etwas zu sagen. Ich saß da zwischen den ganzen Büchern und dachte, so wie die Menschen ums Leben gebracht werden, könnte man sie gleich mit Schraubenzieher und Zange bearbeiten und ihnen Säure in die Augen schütten; man könnte ihnen einfach die Beine abreißen, sie in Tigerkäfige sperren. So wie sie die Menschen töten, kommen nicht zwei aus einer Million lebend davon, und wer macht das und warum?
Und wenn ich die Bibliothek verließ und durch die Straßen lief, kam ich an verschlossenen Haustüren und zur Nacht verriegelten Fenstern vorbei. An Frauen, die mich schief ansahen wegen meines zerlumpten Aufzugs, die aber mit jedem Schwein geschlafen hätten, das einen Strang Rennpferde oder Pfandhäuser sein eigen nannte. Ich lief durch Straßen voller toter Menschen, die sich bewegten und redeten und Namen und Stolz und Besitztümer hatten, in Wirklichkeit aber tot waren. Jede Gesichterparade wurde für mich zum Albtraum – bösartige, verknöcherte und Kloschüsselgesichter … mir drehte sich alles vor Augen nach so einem Spießrutenlauf; nicht vor Hunger, sondern weil mir klarwurde, dass ich, solange ich lebte, in einer Welt der Toten leben würde.
Die Bibliothek war mein Aufenthaltsraum für den Tag – endlich vier Wände!! Keine Bank aus grünem Stahl oder Holz. Hier gab es immer noch was zu erkunden. Ich hatte zeitig zu lesen angefangen, mit 14, heimlich im Schein der Nachttischlampe unter der Bettdecke, weil abends um 8 bei uns das Licht aus sein musste, damit mein Vater Kraft für den nächsten Tag als sinnlos schuftender Heinzelmann tanken konnte.
Ich fing also in der Philosophie- und Religionsabteilung an, und wenn ich beim Tagesgeschehen mit den neuesten Ausgaben der New York Times anlangte, war ich fürs Leben immer noch genauso schlecht gerüstet, und die Rasierklingen und Gasleitungen, die Brücken und Thomas Chattertons Rattengift empfahlen sich nach wie vor als bester Ausweg. Wieder war es das alte Problem: tote Angelegenheiten toter Menschen mit toten Ansichten, nichts als vergeudetes Papier! Der alte Betrug, der alte Witz vom Wissen, das eigentlich nicht da war, aufgedonnert und herausgeputzt in hübscher Terminologie. Sie redeten praktisch die ganze Zeit von Sachen, die nichts mit MIR zu tun hatten; und Ego hin, Ego her, was gab es Wichtigeres (beinah hätte ich gesagt, Nichtigeres) als mich? Ich wippschaukelte dem Tod entgegen, und die redeten von Cremetörtchen im Fenster. Oder noch schlimmer, sie ergingen sich in hochgestochenem Gefasel, bis sie irgendwann einen NERV TRAFEN, und dann BRACHEN SIE AB! Seinerzeit dachte ich, sie hielten etwas zurück, aber inzwischen weiß ich es besser: Sie hatten einfach nichts zu sagen. Suspekt waren sie mir damals schon. Ich merkte, dass sie erzählten wie jemand, der im Glaskäfig sitzt, dass die langen, hochgestochenen und verdrehten Wörter Ausflüchte, Krücken, Schwächen waren. Schaumschlägerei also: leeres Gerede in sinnentleerter Sprache.
Trotzdem zog es mich in eine bestimmte Richtung: Wenn es Antworten und (wenigstens ansatzweise) so etwas wie Kraft gab, dann in der schöpferischen Kunst des Schreibens – Roman, Short Story, Lyrik. Und ich glaube, eher aus Liebe als aus Vernunft (und was könnte vernünftiger sein) bin ich vor langer Zeit zu dem Schluss gekommen, dass LYRIK die schnellste, schönste, geilste Art zu schreiben ist. Wozu einen Roman schreiben, wenn man das Gleiche in zehn Zeilen sagen kann? Warum zehn Romane schreiben, wenn man 10000 schreiben kann? SCHULD UND SÜHNE hätte natürlich nicht in zehn Zeilen gepackt werden können, und es bleibt ein schönes Werk, auch wenn ich mit dem Ende, das den zwanghaften Formeln unserer frömmelnden Gesellschaft
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