Das weingetränkte Notizbuch: Stories und Essays 1944-1990Fischer Klassik PLUS (German Edition)
verhöhnt, die ihm Steine ans Fenster warfen. Zum Glück hatte er ein Fenster. Zum Glück hatte er noch ein Ohr. Hemingway hatte zum Glück eine Flinte. Ich bin in der glücklichen Lage, eine Schreibmaschine und ein Zimmer zu haben, das hier tippen und mich Ihnen mitteilen zu können. Ich verlange keine Gnade für den Künstler, keine öffentlichen Gelder, noch nicht mal Verständnis; ich verlange nur, dass man uns in Ruhe lässt mit den Freuden und Schrecken und Mysterien unserer Arbeit, und sollte unser Werk für Millionen Dollar verkauft werden, wenn wir tot sind, wenn man uns aus unseren Buden voller Kakerlaken, voller Ratten, voller Gespenster, voller Flaschen rausgetragen hat, dann sei es drum. Aber ich verlange, dass man uns in Ruhe lässt – wir lassen euch die feinen Damen, die Schlösser, die neuen Autos, die Fernseher, den Krieg, die Steaks, die 45-Dollar-Schuhe, die 5000-Dollar-Bestattungen, die kilometerweiten Kaktusgärten, die Original-van-Goghs; lasst ihr uns dafür mit eurer »Obszönität« in Ruhe und macht eure Razzien an den Kiosken mit ihren Arsch-und-Titten-Fotos, Seite für Seite nacktes, stumpfes Fleisch ohne Gesicht als Wichsvorlage für Oberschüler, als Aufgeiler für dreckverkrustete verrückte Kinderschänder, macht eure Razzien da, bei dieser millionenschweren Industrie, WENN IHR SCHON RAZZIEN MACHEN MÜSST, aber lasst uns in Ruhe, LASST UNS IN RUHE. Heute in hundert Jahren werden die Bücher, die ihr jetzt beschlagnahmt, an Universitäten durchgenommen, falls eure Regierenden nicht so dämlich sind, uns alle in die Luft zu jagen. Ich glaube, wenn ihr Razzien veranstaltet, dann macht ihr Jagd auf eure eigene Furcht, auf euer eigenes Gewissen (soweit vorhanden), und fahndet wütend nach eurer verlorenen Seele. Ich verlange nicht, dass ihr das alles versteht. Zwingt mich bitte nicht, es euch verständlich zu machen. Ich habe anderes zu tun.
Notizen eines Dirty Old Man
National Underground Review, 15 . Mai 1968
»YOWWWWWWW!«
Ich hatte Visionen damals. Sie kamen meistens, wenn ich nichts zu trinken hatte, wenn ich darauf wartete, dass Geld oder irgendwas eintrudelte, und die Visionen waren sehr echt – Technicolor mit Musik. Meistens flimmerten sie an der Decke entlang, während ich in halb schlafendem Zustand auf dem Bett lag. Ich hatte in zu vielen Fabriken gearbeitet, zu viele Gefängnisse erlebt, zu viele Flaschen billigen Wein getrunken, um meinen Visionen gegenüber Gelassenheit und kluge Distanz zu bewahren –
»HAUT AB, IHR SCHEISSFRATZEN! ICH FLEHE EUCH AN! VERSCHWINDET! IHR TREIBT MICH ZUM WAHNSINN! O MEIN GOTT, O HEILAND! GNADE!«
In San Francisco war das. Dann hörte ich ein Klopfen an der Tür. Es war die alte Frau, die den Laden schmiss, Mama Fazzio.
»Mr Bukowski?«, sagte sie durch die Tür.
»AAAAAAAAKKKK!«
»Bitte?«
»Llll. Mmmph …«
»Geht’s Ihnen gut?«
»Klar doch.«
»Darf ich reinkommen?«
Ich stand auf und öffnete die Tür, kalt gewordenen Schweiß hinter den Ohren.
»Sagen Sie mal …«
»Was?«
»Sie brauchen doch was, um Ihren Wein und Ihr Bier zu kühlen, Sie haben ja keinen Kühlschrank. Ein Topf Eiswasser würde schon reichen. Ich bringe Ihnen einen Topf Wasser mit Eis.«
»Danke.«
»Und ich weiß noch, als Sie vor zwei Jahren hier waren, hatten Sie einen Plattenspieler. Sie haben die ganze Zeit Klassik gehört. Fehlt Ihnen die Musik nicht?«
»Doch.«
Dann ging sie. Ich wollte mich nicht aufs Bett legen aus Angst, die Visionen kämen wieder. Sie kamen immer kurz vor dem Einschlafen. Oder kurz, bevor man eingeschlafen wäre. Schreckliche Sachen: Spinnen, die in ihren Netzen verfangene dicke Babys verzehrten, Babys mit milchweißer Haut und meerblauen Augen. Oder auch Gesichter, einen Meter breit, mit rot, weiß und blau gerahmten Mösenlöchern. So in der Art. Ich setzte mich auf einen Küchenstuhl und sah hinaus auf die San Francisco Bay Bridge. Dann hörte ich Gerumpel auf der Treppe. Irgendein Monstervieh, das mich holen kam? Ich machte die Tür auf. Mama Fazzio mit ihren achtzig Jahren drückte und schob da an einem alten Stehgrammophon aus grünem Holz herum, so einem mit Kurbel, es muss doppelt so schwer gewesen sein wie sie und sperrig auf der schmalen Treppe, und ich stand da und sagte: »Jesus Christus, langsam, nicht bewegen!«
»Ich schaff das schon!«
»Sie bringen sich um!«
Ich lief runter und schnappte mir das Ding, aber sie bestand darauf, mir zu helfen. Wir brachten es in mein Zimmer. Es sah gut
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