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Das weingetränkte Notizbuch: Stories und Essays 1944-1990Fischer Klassik PLUS (German Edition)

Das weingetränkte Notizbuch: Stories und Essays 1944-1990Fischer Klassik PLUS (German Edition)

Titel: Das weingetränkte Notizbuch: Stories und Essays 1944-1990Fischer Klassik PLUS (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Bukowski
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durch den Tag brachte, auf die andere Straßenseite, etwas, an das ich mich klammern konnte. Ich wollte mich an Wörtern betrinken, stattdessen musste ich zur Flasche greifen. Wie wohl die meisten verhinderten Schriftsteller war ich der Meinung, dass ich wirklich schreiben konnte und dass die Umstände, die Moden und die Politik gegen mich arbeiteten. Manchmal stimmt das; manchmal meint man aber auch nur, schreiben zu können, und kann es in Wirklichkeit nicht.
    Ich hungerte und schrieb. Von 86 Kilo kam ich runter auf 62. Meine Zähne lockerten sich. Die Schneidezähne konnte ich mit den Fingern hin und her schieben. Sie saßen lose im Zahnfleisch. Eines Abends beim Rumspielen damit merkte ich, wie etwas nachgab, und hatte einen Zahn in der Hand. Ab war er: der obere Schneidezahn rechts. Ich legte ihn auf den Tisch und trank einen drauf.
    Und wenn man den Lohn eines Teilzeitarbeiters streckt, verzichtet man natürlich noch auf andere Sachen. Auf junge Frauen und aufs Auto. Man läuft zu Fuß und nimmt sich hin und wieder eine Nutte. Außerdem trägt man die Schuhe, bis die Sohlen durchgelaufen sind, und steckt sich Pappe rein; aber irgendwann kommen die Nägel so bös durch, dass man in den Schuhen einfach nicht mehr laufen kann. Für einen Sonntagsanzug reicht es selten, und man wird weder zu Thanksgiving noch zum Weihnachtsessen eingeladen. Hungernde Schriftsteller sind schlimmer dran als Penner. Weil zwei Dinge ihnen unentbehrlich sind: vier Wände und Alleinsein.
    … Aber eines Mittags in der L. A. Public Library passierte etwas. Von wegen belesen – ich war vollgestopft bis zum Gehtnichtmehr: D. H. Lawrence, sämtliche Russen, Huxley, Thurber, Chesterton, Dante, Shakespeare, Villon, sämtliche Shaws, O’Neill, Blake, Dos Passos, Hem, wozu noch mehr aufzählen? Hunderte von bekannten Schriftstellern und hunderte von unbekannten … Und alle haben mir zugesetzt, weil sie alle irgendwann gut waren, aber nur strecken- und stückchenweise, und dann wieder in lähmende Langweilerei verfielen. Das war mehr als entmutigend, denn es hieß, dass mich die Literatur und Literaten von Jahrhunderten, JAHRHUNDERTEN enttäuscht hatten. Zumindest hatten sie mir nicht das gegeben, was ich von Geschriebenem brauchte.
    Aber wie gesagt, an diesem Tag gegen Mittag vertrieb ich mir wie üblich die Zeit, indem ich Bücher aus dem Regal nahm, sie aufschlug, ein, zwei Seiten las und sie zurückstellte. Nun, ich zog das nächste raus. Sporting Times? Yeah? Von einem gewissen John Bante. Gefasst auf das Übliche schlug ich eine Seite auf, und hoppla, die Wörter sprangen mich an. Sie flogen vom Papier und bohrten sich in mich rein. Die Wörter waren klar und einfach, und sie handelten von etwas, was da wirklich passierte! Sogar der Satzspiegel war anders. Die Wörter waren lesbar. Es gab Leerstellen und dann wieder Wörter. Die Wörter waren fast wie eine Stimme im Raum. Ich nahm das Buch an einen Tisch mit und setzte mich hin. Jede Seite war voll Kraft. Ich fasste es nicht. Es war, als könnten die Seiten jeden Moment aus dem Buch springen und anfangen herumzulaufen oder zu fliegen. Sie hatten eine erstaunliche Wucht, etwas ganz und gar Reales. Wieso hatte ich von dem Mann noch nie gehört? Ich las auch Literaturkritik, Winters, die ganzen Säcke, die ganzen Hätschelkinder der Kenyon Review und der Sewanee Review , und sie hatten den Mann noch nie erwähnt. Auch in meinen zwei halbherzigen Jahren Dauerschlaf am L. A. City College war er nicht zur Sprache gekommen.
    Ich sah von meinem Tisch auf. Na, mein Tisch war es ja nicht, er gehörte der Stadt, den Steuerzahlern, und ich zahlte nicht viel Steuern. Aber ich hatte das Buch von John Bante vor mir, und ich blickte zu den Leuten an den anderen Tischen, den Leuten, die umherliefen oder bloß rumsaßen, viele davon Penner wie ich, und keiner von ihnen kannte John Bante … sonst hätten sie gestrahlt, sie hätten sich besser gefühlt, es hätte ihnen nicht so viel ausgemacht, das zu sein, was sie waren oder sein mussten.
    Ich hatte einen Bibliotheksausweis und nahm John Bante mit. Ich nahm ihn mit zu mir und fing auf Seite 1 an. Manchmal war er sogar witzig, aber es war ein eigenartiger, ruhiger Humor, als ob jemand auf dem Scheiterhaufen dem Mann zuzwinkert, der das Feuer in Gang gesetzt hat, oder Dem Mann Da Oben. Bante hatte eine religiöse Ader, auch wenn das eigenartige Lächeln durchschien. Religiös war ich zwar nicht, aber bei ihm gefiel mir das. Und er schrieb von

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