Das weiße Amulett
wirklich wollen?«
Mansfield legte einen Arm um ihre Schulter und drückte sie an sich. »Du musst es nicht tun, Karen. Es ist für deine Recherche wirklich nicht nötig.«
Doch da hatte er etwas gesagt, das sie aus ihrer Erstarrung riss. Ihre Recherche! Sie hatte hier etwas zu erledigen. Es musste sein. Sie durfte jetzt nicht davonlaufen. Also nickte sie Laurent zu und der Angestellte hob das weiße Laken.
Karen hatte vorher schon Tote gesehen, aber der Anblick einer halb skelettierten menschlichen Leiche war unerträglich. Sie wandte sich ab und vergrub das Gesicht in Mansfields Mantel. Auch in dessen Gesicht zuckte es verdächtig. Er hätte diesem Mann so gern geholfen, aber er konnte ihm nicht einmal den letzten Gefallen tun und seinen Mörder jagen, denn selbst der war wahrscheinlich schon seit einigen Jahrzehnten tot. So gab es nichts anderes zu tun, als Karen im Arm zu halten und beruhigend auf sie einzureden. Er gab Laurent mit einem Blick zu verstehen, dass er jetzt mit ihr rausgehe, woraufhin der Kommissar dem Angestellten ein Zeichen machte, die Kühlkammer wieder zu schließen.
Laurent folgte den beiden, wobei er einige Meter hinter ihnen blieb. Er musste sich eingestehen, dass er sich immer noch wünschte, ihnen nie begegnet zu sein. Irgendwie hatte er das unangenehme Gefühl, dass der Fall des alten Professors noch einige Überraschungen für ihn auf Lager hatte. Und der Grund dieses Gefühls ging zwei Meter vor ihm.
Draußen vor der Pathologie fragte Laurent, ob sie mit ins Präsidium kommen und sich die letzten Habseligkeiten des Professors anschauen wollten, die man bei ihm gefunden hatte. Karen hatte nur wortlos genickt.
»Haben Sie schon herausgefunden, wie der Professor starb?«, wollte Mansfield wissen, als sie sich in dem kleinen Büro auf zwei alte Metallstühle setzten.
Laurent legte einen kleinen Stapel Papiere auf einen Aktenhaufen und warf Mansfield einen kurzen Blick zu.
»Ein Herzinfarkt war es jedenfalls nicht. Wir haben mehrere Stichverletzungen an zwei hinteren Rippen und am rechten Schulterblatt gefunden. Der Mörder scheint ihm bis in die Rue de Limoges gefolgt zu sein und ihn dort mit einem Messer überwältigt zu haben.«
Karen sah auf. »Er ist mit einem Messer getötet worden?«
Laurent nickte. »Wahrscheinlich.«
Ihr lief ein kalter Schauer über den Rücken. Mansfield griff an seine rechte Seite und strich unbewusst über die Narbe unter dem Rippenbogen, während Karen mit dem Zeigefinger unsichtbare Zeichen auf die dunkle Tischplatte malte. »Gibt es sonst noch irgendwelche Anhaltspunkte?«, fragte sie geistesabwesend.
»Madame Alexandre, ich werde wohl kaum unsere polizeilichen Ermittlungen mit Ihnen besprechen.«
Mansfield machte eine ungeduldige Handbewegung. »Ach kommen Sie schon, Monsieur Laurent, was soll es denn da für Dienstgeheimnisse geben? Der Fall ist verjährt, der Mörder wahrscheinlich seit fünfzig Jahren tot, und der Fall wird endlich als abgeschlossen ins Archiv wandern.«
Laurent warf ihm einen verdrießlichen Blick zu und wollte etwas erwidern, aber Karen kam ihm zuvor.
»Ich will sie gar nicht sehen.«
»Wie bitte?«
»Ich will die Details nicht lesen. Und ich will auch nicht die Fotos sehen. Der Anblick vorhin hat mir gereicht.«
»Hast du etwas dagegen, wenn ich mir die Akte ansehe?« Mansfield wollte nach der dünnen Mappe greifen, die vor Laurent lag, als dieser demonstrativ seine Arme darauflegte.
»Warum fragen Sie das eigentlich nicht mich?«, sagte er beleidigt, und seine Augen funkelten gefährlich.
Die beiden Männer sahen sich an, und keiner von ihnen wollte nachgeben.
»Ach verdammt«, murmelte Laurent schließlich und reichte Mansfield den schmalen Ordner.
Er nahm ihn wortlos entgegen und blätterte langsam die hundert Jahre alten Notizen durch, dann die Unterlagen und Ergebnisse der jetzigen Untersuchungen, des wahrscheinlichen Tathergangs und die Fotos der Leiche am Fundort. Es irritierte ihn, dass ihn diese Beschreibungen so sehr interessierten und er jedes Detail unbewusst in sich aufsog. Er hatte schon oft solche Akten gelesen und eigentlich geglaubt, eine gewisse Professionalität zu besitzen. Aber bei dieser Akte war es irgendwie anders. Er wollte alles wissen. Besonders die Vernehmungsakten der unter dem Professor arbeitenden Studenten und von Lescot. Den rekonstruierten Tathergang las er sogar dreimal. Dann schloss er die Akte.
»Danke«, sagte er und reichte sie Laurent zurück.
Dieser nahm sie rasch an
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