Das weiße Amulett
Wohnzimmer, wo ein heilloses Chaos herrschte, Vasen zerschlagen und Stühle umgekippt waren, und rief immer wieder Karens Namen. Doch niemand antwortete. Nur eine Amsel trällerte auf dem Hinterhof ein einsames Lied. Mansfields Blick wanderte zur Hintertür, durch deren Fliegengitter er gesplittertes Holz erkennen konnte.
Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend stürmte er durch die Tür und konnte gerade noch einen schwarzen Schatten am Ende des Gartens über eine Mauer verschwinden sehen. Er schickte dem flüchtenden Mann einige Kugeln hinterher, schien ihn aber nicht getroffen zu haben. Doch das war ihm jetzt auch egal. Vor ihm lag Karen auf den Steinplatten und eine kleine Blutlache bildete sich hinter ihrem rechten Ohr.
Mit einem einzigen Sprung war er neben ihr, zog mit der linken Hand sein T-Shirt aus und legte es vorsichtig unter ihren Kopf. Dann griff er nach seinem Handy.
45
Im Saint-Raphael legte Dr. Viret seinen Kugelschreiber in die Mappe zurück und sah die beiden Männer vor sich an.
»Sie hat Glück gehabt. Die Schädeldecke ist intakt geblieben. Es musste nur eine kleine Platzwunde am rechten Hinterkopf genäht werden. Außerdem hat sie eine leichte Prellung an der Hüfte und starke Würgemale am Hals.« Der Arzt warf Mansfield einen nicht gerade freundlichen Blick zu, und auch Laurent sah ihn vorwurfsvoll an.
Das war zu viel für Mansfield. »Jetzt reicht’s! Ich werde diesen Kerl finden, und wenn ich ganz Paris nach ihm absuchen muss.« Er griff nach seiner Jacke und ging. Laurent eilte ihm hinterher, blieb allerdings am oberen Treppengeländer stehen und blickte nach unten, wo er Mansfields Schatten an den Flurwänden vorbeihuschen sah. Eilige Schritte hallten zu ihm herauf. Wollte er fliehen? Das würde ihm nicht gelingen. Unten wartete Durel.
»Monsieur Mansfield!« Laurents Worte dröhnten kalt von den Kachelwänden wider. »Sie wissen, dass Sie Paris nicht nach ihm absuchen müssen!«
Unter Laurent wurden die Schritte immer langsamer, und schließlich verstummten sie ganz. Einige Sekunden vergingen, dann hörte der Kommissar, wie Mansfield wieder zurückkam. Dieser würdigte ihn keines Blickes, als er an ihm vorbeiging. Laurent folgte ihm wortlos, bis sie wieder vor Karens Zimmertür standen.
»Madame Alexandre bekommt keine Nachtwache, richtig?«, fragte Mansfield.
»Richtig.«
»Dann werde ich hier bleiben.« Er warf seine Lederjacke auf eine Besucherbank neben Karens Zimmer und setzte sich, während Laurent ihn abschätzend musterte. Dann hatte er einen Entschluss gefasst und verließ das Krankenhaus.
Es war schon dunkel, als Mansfield, der auf der Bank eingenickt war, plötzlich eine Berührung an seiner Schulter spürte. Im nächsten Augenblick packte er den Arm des Angreifers und wollte ihm ins Gesicht schlagen, doch der Mann hielt abwehrend seine Hände hoch.
»Monsieur Mansfield, ich bin’s, René Durel.«
Mansfield zog die Faust zurück. »Was machen Sie denn hier?«
»Ich dachte, ich schau mal bei Ihnen vorbei und übernehme die Nachtschicht, damit Sie zu Hause ein wenig schlafen können.«
Mansfield richtete sich auf und streckte seinen verspannten Körper, während Durels Worte langsam in sein Gehirn eindrangen. »Glauben Sie etwa, dass ich zu Hause schlafen könnte?«
»Sie haben eben ja auch nicht gerade Kreuzworträtsel gelöst, oder?« Durel grinste ihn an.
»Hat Laurent Sie geschickt?«
»Würden Sie mir glauben, wenn ich sagen würde, dass er’s nicht getan hat?«
»Nein.«
Durel seufzte. »Sie sind ein unhöflicher Mensch, Mansfield. Ich weiß nicht, was zwischen Ihnen und Laurent ist, aber ich bin jedenfalls hier, um Ihnen und Madame Alexandre zu helfen. Ob Sie die Hilfe annehmen oder nicht, ist Ihre Entscheidung.« Das war zwar eine Lüge, aber es hörte sich wenigstens gut an.
Mansfield fasste sich an den Kopf und versuchte das leise Brummen in seinem Schädel zu ignorieren. »Haben Sie denn morgen früh keinen Dienst?«
Durel zuckte abwertend mit den Schultern. »Ich muss noch einige Überstunden abfeiern. Laurent wird mich vor dem Mittag nicht vermissen.«
Durels gespielte Leichtigkeit ließ Mansfield auf der Hut sein. »Sie trauen mir immer noch nicht«, knurrte er.
»Wundert Sie das?«, fragte Durel unbekümmert und versperrte ihm den Weg in Karens Zimmer, indem er sich provokativ gegen die Tür lehnte.
Mansfield versuchte sich zu beherrschen. »Wenn ich es auf Karens Leben abgesehen hätte, wäre sie schon längst tot und ich
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