Das weiße Amulett
Michael, sieh zu, dass du so schnell wie möglich deine Geschäfte erledigst und wieder nach Hause kommst. Glaub mir, die Schlinge zieht sich Tag für Tag fester um deinen Hals. Ich kann dich nicht mehr lange decken.«
Mansfield lächelte bitter, als er an das Telefonat dachte. Tom hatte Recht, die Dinge mussten endlich erledigt werden.
43
Die nächsten zwei Tage vergingen ohne gravierende Zwischenfälle. Mansfield verließ öfter das Haus, um »einzukaufen«, doch Karen bemerkte gar nicht, wie oft und wie lang er weg war. Sie war viel zu sehr in ihre Arbeit vertieft. Umgeben von alten Dokumenten, der blauen Mappe, dem Laptop, einigen Chemie-Fachbüchern aus der Bibliothek der Sorbonne und den neuen Papieren von Escard saß sie auf dem Sofa und ließ ein ums andere Mal entnervt den Kugelschreiber fallen. Es frustrierte sie, dass sie von Lescots notierten chemischen Formeln kein Wort verstand. Mit einer fahrigen Handbewegung strich sie sich die Haare aus der Stirn, während ihr Blick auf die offene Küchentür fiel. Es dauerte einige Sekunden, bis sie die Tür wahrnahm und wieder in die reale Welt zurückkehrte. Das Bild einer weißen Tasse mit duftendem heißem Kaffee stieg in ihr auf. Ja, ein Kaffee wäre jetzt genau das Richtige.
Karen ging in die Küche, wo sie für sich und Mansfield Kaffee kochte. Vielleicht würde er wie gestern Nachmittag zu dieser Zeit zurückkommen und Kuchen mitbringen? Sie hielt die Nase an die Kaffeedose und genoss das Aroma des braunen Pulvers. Sie hatte den Kaffee selbst gemahlen und konnte vom frischen Duft nicht genug kriegen. Er belebte ihre Sinne. Genussvoll lehnte sie sich mit der offenen Dose in der Hand gegen eine der Fensterbänke und schaute gedankenverloren auf die Straße hinaus, als ein lautes Klingeln ertönte. Es war das Telefon, das im Flur auf einem kleinen Tisch stand. Sie stellte die Kaffeedose ab und ging zum Telefon, ohne zu bedenken, dass eigentlich niemand diese Telefonnummer kennen konnte. Sie und Mansfield hatten beide ihre Mobiltelefone.
Ohne Eile ging sie in den Flur und nahm den Hörer ab.
»Oui?«
Es war nur ein lautes Rauschen zu hören. Karen wollte schon wieder auflegen, als plötzlich eine Hand nach ihr griff.
Entsetzt ließ sie den Hörer fallen und schlug wild um sich.
44
Mansfield war mit seinem Tagesverlauf nicht besonders zufrieden. Sein Besuch gestern Abend im Capet und seine Droh- und Erpressungsversuche waren beim Wirt auf keinen fruchtbaren Boden gestoßen. Offensichtlich hatte er vor Lucass mehr Angst als vor der französischen Polizei. Und von einem Fremden würde er sich niemals einschüchtern lassen. Das hatte auch Mansfield erfahren müssen, der kurz davor gewesen war, ihm seine Pistole ans Kinn zu setzen.
Trotzdem hätte er beinahe Lucass’ Fährte wieder gefunden, da Vincent unverhofft die Kneipe betrat und bei seinem Anblick sofort flüchtete. Mansfield rannte ihm hinterher, aber Lucass’ Leute kannten Paris wie ihre Westentasche, und es dauerte keine fünf Minuten, bis Vincent ihm entkam.
Aber ohne Lucass war er geliefert. Allmählich hatte er sowieso das Gefühl, geliefert zu sein. Nur gut, dass er sich vorgestern eine neue Pistole besorgt hatte, nachdem er El Bahays Waffe wegen der Sicherheitskontrollen am Flughafen in Ägypten zurücklassen musste. Er spürte das kühle Metall an seinem Rücken und fühlte sich damit sicher. Bei dem Gedanken, wie es wohl wäre, wenn Laurent ihn jetzt abtasten würde, musste er grinsen. Der misstrauische Kommissar würde sich diebisch freuen, ihn sofort mitnehmen und mindestens für eine Nacht einbuchten zu können, selbst wenn er ihn am nächsten Tag wieder gehen lassen müsste. Nur so zum Spaß würde er es genießen, ihn für mindestens eine Nacht auf einem harten Quartier in der Untersuchungszelle zu geben. Dieser Vollidiot! Hoffentlich würde er ihm nie in die Quere kommen.
Mansfield fuhr ins Marais-Viertel zurück und hielt auf einem kleinen Parkplatz direkt an der Straße unter den alten Kastanien, die vor dem Haus standen. Die Luft war mild, es war ein sonniger Spätsommertag. Er öffnete mit dem Schlüssel die Haustür und rief nach Karen. Er bekam keine Antwort, aber das wunderte ihn nicht mehr. Wenn sie in ihre Bücher und Papiere vertieft war, konnte die Welt untergehen, sie hätte es nicht bemerkt. Doch als er im Flur den herunterhängenden Telefonhörer sah, wusste er, dass etwas nicht stimmte.
»Karen!«
Mit einem Griff hatte er seine Pistole in der Hand und stürmte ins
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