Das weiße Amulett
schien nicht einmal zu atmen.
»Karen?«
Die Tasse mit dem dampfenden Kaffee zitterte in ihrer Hand, das Gesicht war bleich wie die Wand hinter ihr.
Mansfield legte seine Zeitung zur Seite und beugte sich über den Tisch. »Was ist mit dir?«
Wie aus einem dunklen Traum erwachte sie und stellte zitternd die Tasse auf den Unterteller ab.
»Wir müssen sofort nach Paris zurück«, flüsterte sie und legte die Zeitung langsam auf den Tisch vor sich.
Mansfield wollte gerade fragen, was denn passiert sei, als ein Hotelpage an den Tisch trat und ihr zuflüsterte: »Mrs Alexander? Ein Monsieur Laurent aus Paris verlangt Sie unbedingt am Telefon zu sprechen.«
Karen nickte nur und stand auf.
»Laurent? Aber was …« Mansfield warf Karen einen fragenden Blick zu, doch sie reichte ihm nur wortlos die Le Monde und folgte dem Pagen zum Telefon. Mansfield überflog die Schlagzeilen, konnte aber nichts Ungewöhnliches finden. Er wollte wieder auf der ersten Seite beginnen, als er plötzlich links unten einen kleinen Artikel mit der Überschrift: »Hundert Jahre alte Leiche gefunden« bemerkte.
Rasch las er weiter: » Paris: Bei dem vor einigen Tagen bei Bauarbeiten in der Rue de Limoges gefundenen menschlichen Skelett scheint es sich doch nicht wie bisher vermutet um ein Mordopfer neueren Datums zu handeln. Wie uns die zuständige Mordkommission mitteilte, konnte dies nach den ersten Untersuchungen bereits ausgeschlossen werden. Die noch erhaltenen Teile der Kleidungsstücke deuten eher darauf hin, dass es sich bei der gefundenen männlichen Leiche um einen Professor der Sorbonne handelt, der vor hundert Jahren spurlos verschwand …«
42
Paris
Das Wetter war an diesem Septembertag genauso verregnet wie in den vergangenen drei Tagen. Paris zeigte sich Karen zum ersten Mal in einem unangenehmen herbstlichen Grau. Es regnete Bindfäden, und der Wetterbericht gab keine Hoffnung auf Besserung.
Der Flug war lang gewesen, aber für Karen nicht lang genug. Laurent hatte sie angerufen, um sie von dem Fund zu informieren und zu fragen, ob sie den Leichnam sehen wolle, ehe man ihn zur Bestattung freigebe.
»Freigeben?«, hatte Karen ihn daraufhin gefragt. »Gibt es noch Angehörige des Toten?«
»Er hatte eine Schwester, aber die hatte nur noch eine Tochter, die kinderlos verstarb. Außerdem haben wir zwei entfernt verwandte Onkel gefunden, aber die hatten kein Interesse an der Leiche und wollten kein Geld für die Überführung ausgeben.«
»Das heißt, Sie lassen ihn in Paris?«
»Nun, Madame, er hat hier gelebt, er ist hier gestorben, und er hat schon sehr lange hier in der Erde geruht. Denken Sie nicht, dass er dann auch hier beerdigt werden sollte?«
»Nein, das denke ich nicht. Wenn man den Notizen seines Assistenten Glauben schenken darf, wollte er später wieder nach Deutschland zurückkehren.«
Laurent räusperte sich. »Das geht nun wohl nicht mehr.
Oder wollen Sie vielleicht die Überführung bezahlen, Madame Alexandre?«
»Nein, natürlich nicht. Ich finde es nur sehr schade, da es offensichtlich nicht seinem Wunsch entsprach.«
»Er wird immerhin einen Gedenkstein bekommen. Die Sorbonne hat sich dazu bereit erklärt.«
»Das ist gut. Das hätte ihm sicherlich gefallen«, hatte sie gesagt und erklärt, dass Mansfield und sie nach Paris zurückfliegen würden.
Normalerweise hatte sie den Menschen ihrer Monographien nie in die Augen sehen können, und sie war sich auch dieses Mal nicht sicher, ob sie es wirklich wollte. Zumal von Augen wahrscheinlich nicht mehr die Rede sein konnte. Karen fröstelte bei dem Gedanken, den sterblichen Überresten dieses Mannes gegenüberzustehen.
»Willst du wirklich hingehen?«, hatte Mansfield gefragt. Sie hatte genickt, denn irgendwie hatte sie das Gefühl, es dem Professor schuldig zu sein, auch wenn sie sich dazu überwinden musste und sich nicht wohl dabei fühlte. »Also gut, dann komme ich mit«, hatte Mansfield nur gesagt, und Karen war ihm dankbar dafür.
Und jetzt standen sie vor der großen Metallwand des Kühlraums in der Pathologie, und Laurent bat den Angestellten mit einem kurzen Nicken, die quadratische Stahltür zu öffnen. Der junge Mann zog die Bahre aus dem Fach und sah kurz in die Runde. Mansfield machte ein sehr ernstes Gesicht, Karen biss sich auf die Lippe.
»Sind Sie bereit, Madame Alexandre?« Laurent warf ihr einen besorgten Blick zu. Sie war seit dem ersten Schritt in dieses Gebäude merklich blasser geworden. »Sind Sie sicher, dass Sie es
Weitere Kostenlose Bücher