Das weiße Amulett
meinen Teil werde jedenfalls hier unten gemütlich sitzen bleiben und eventuell ein Eis essen und auf Sie warten.«
Er zögerte, auf die vielen Touristen blickend, die an die Pfeiler drängten und von den Bussen andauernd neue Nahrung bekamen. Dann sah er wieder auf Karen.
»Ehrlich gesagt, ist mir nicht wohl bei dem Gedanken, Sie hier alleine zu lassen.«
Karen breitete die Arme aus. »Alleine? Sehen Sie sich doch mal um. Ich bin hier so allein wie zu Ostern auf dem Petersplatz in Rom. Also gehen Sie schon, oder Sie werden es bereuen.«
Mansfield zögerte noch einen Moment, aber Karen war offenbar wirklich nicht dazu zu bewegen, mit ihm auf den Turm zu steigen. Also drehte er sich um und ging zum Eingang des Südpfeilers. Er hätte zwar auf einen der kleinen Kabinenaufzüge warten können, aber er wollte diesen Turm zu Fuß erobern. Auf der Treppe konnte man viel intensiver die verschiedenen Nuancen der Stadt in sich aufnehmen. Es war wirklich ein Erlebnis. Die Geräusche der Straße verstummten allmählich und machten dem Säuseln des Winds Platz, der sich in den alten Stahlträgern verfing.
Mansfield war bereits mehrere Minuten unterwegs. Manchmal musste er einigen Besuchern ausweichen, die wieder auf dem Weg nach unten waren. Ganze Familien mit Kleinkindern auf dem Arm krochen über die Treppenstufen, während er eine niederländische Familie und mehrere japanische Touristen überholte. Bei jedem Treppenabsatz versuchte er Karen im Blick zu behalten, doch als er drei viertel der Treppe hinter sich gelassen hatte, stockte ihm der Atem – unter dem Eiffelturm bahnte sich eine dunkle Gestalt mit langem schwarzem Mantel einen Weg durch die Menschenmasse.
»Karen! Karen!« Mit beiden Armen gab er ein Warnzeichen, aber sie reagierte nicht auf ihn. »Verdammt!«, schrie er und rannte im nächsten Augenblick die Stufen hinunter. Er stolperte, riss sich die rechte Hand am Gitter auf und stürmte sofort weiter. Auf einem Zwischenabsatz hielt er an und winkte nach unten, um Karen zu warnen, aber sie war nicht mehr an ihrem Platz. In Panik suchte er die Menschenmenge unter dem Eiffelturm nach ihr ab, und tatsächlich sah er sie dort.
Sie kam gerade von einem kleinen Verkaufsstand und aß ein Eis, als sie zu Mansfield aufsah und irritiert bemerkte, dass er ihr aus einer unmöglichen Höhe etwas zuzurufen versuchte. Außerdem wedelte er wild mit den Armen. Sie winkte ihm locker mit einer Hand zurück, doch plötzlich fiel ihr eine schlanke Gestalt in dunklem Mantel auf, und im selben Moment erkannte sie in ihr den Mann von der Metrostation. Und auch er hatte sie erblickt und lächelte ihr grimmig zu. Er war sich seiner Beute sicher.
Wie in Trance taumelte Karen rückwärts. Mit einem kurzen Blick auf den Eiffelturm sah sie Mansfield die Stufen hinunterstürmen, aber er war immer noch auf halber Höhe des Pfeilers.
Er würde zu spät kommen.
Karen warf das Eis weg und rannte ohne viel nachzudenken übers Marsfeld zur École Militaire.
10
Laurent trat gerade in sein Büro, als das Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ab und erkannte Mansfields atemlose Stimme.
»Monsieur Laurent! Sie müssen mir helfen!«
Der Kommissar holte tief Luft. »Sagen Sie es nicht, Monsieur Mansfield. Sagen Sie nicht, dass Madame Alexandre etwas zugestoßen ist.«
»Das weiß ich nicht. Sie ist verschwunden. Ich war oben auf dem Eiffelturm, sie wollte unten auf mich warten. Dann tauchte dieser verdammte Kerl von der Metrostation auf, und sie lief davon.«
Am anderen Ende der Leitung folgte ein Schwall französischer Schimpfwörter. »Monsieur Mansfield, wann werden Sie endlich verstehen, dass ich mich nicht den ganzen Tag nur um Sie und Ihre kleine Freundin kümmern kann. Ich bin nicht die Touristeninformation und auch nicht das Fundbüro. Nein, in Wirklichkeit habe ich hier drei Mordfälle auf dem Tisch liegen, die neben Ihrer persönlichen Betreuung auch noch geklärt werden wollen.«
»Und wenn Sie nichts unternehmen, werden Sie bald den vierten Fall auf den Tisch bekommen«, gab Mansfield bissig zurück.
Ein dreifaches »merde« vibrierte durch die Leitung.
»Wo sind Sie jetzt?«, bellte Laurent in den Hörer.
»An der École Militaire am Marsfeld.«
»Das ist nicht mein Zuständigkeitsbereich, aber ich will sehen, was ich tun kann.« Er knallte den Hörer auf und verfluchte den Tag, an dem er Mansfield und Alexandre begegnet war.
Durel kam durch die offene Tür hereingeschlendert und überreichte Laurent eine dicke Akte, die
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