Das weiße Amulett
Mansfield losfuhr, warf er ihr einen schnellen Blick zu. Ihr Gesicht war angespannt, und er wäre fast froh gewesen, wenn sie geweint hätte, denn dieser starre Ausdruck deutete auf einen Schock hin. Er überlegte, ob er sie zu einem Arzt fahren sollte.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
Sie antwortete nicht sofort und sah mit leerem Blick auf die Straße. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Lippen ganz trocken waren und zusammenklebten.
»Nichts ist in Ordnung«, flüsterte sie schließlich.
»Soll ich Sie zu einem Arzt fahren? Vielleicht würde Ihnen eine Beruhigungsspritze gut tun.«
»Nein, bitte nicht. Es wird auch ohne gehen.«
»Sind Sie sicher?«
»Bitte keinen Arzt und keine Spritze«, wiederholte sie, und ihre Augen verengten sich, als sie ein rotes Rinnsal an Mansfields rechter Hand bemerkte. »Sie bluten.«
»Ist nicht so schlimm.« Er bewegte die Finger, damit sie sah, dass es nur eine oberflächliche Wunde war. »Hab mich am Eiffelturm verletzt.« Er bog in die Straße zum Hotel ein, und kurze Zeit später öffnete er die Tür von 505. Karen ließ die Tasche zu Boden sinken und lehnte sich gegen die Wand zum Badezimmer.
»Ich möchte gern ein Bad nehmen, wenn es Ihnen nichts ausmacht, und dann ins Bett gehen. Oder ich nehme die Couch.«
»Über die Couch diskutiere ich nicht mit Ihnen«, entgegnete er und ging ins Badezimmer, um zu überprüfen, ob das Hotelpersonal frische Handtücher und Bademäntel gebracht hatte. Es lag alles an seinem Platz.
Karen schloss die Tür hinter sich und verriegelte sie. Etwa eine Stunde später trat sie im Bademantel und mit einem zum Turban gebundenen Handtuch auf dem Kopf ins Zimmer. Mansfield saß in einem Sessel und blätterte in einer französischen Zeitung, die er schnell zur Seite legte, als er sie sah. Er stand auf und machte einige Schritte auf sie zu, aber sie wich zurück.
»Fühlen Sie sich besser?«, fragte er und musterte sie, doch sie entzog sich seinem Blick. Obwohl es ungerecht war, konnte sie seine Nähe im Moment nicht ertragen. Es ist nicht seine Schuld, sagte eine innere Stimme. Er wollte dich nicht allein lassen, aber du hast ihn auf den Eiffelturm geschickt. Es war deine eigene Entscheidung.
»Ja, es geht mir besser, aber ich werde jetzt gleich ins Bett gehen«, sagte sie und steuerte unsicher auf die weiße Schiebetür zu.
»Sie haben noch nichts gegessen«, gab er zu bedenken, doch sie schüttelte nur leicht den Kopf.
»Ich kriege im Augenblick keinen Bissen runter. Ich werde lieber eine Schlaftablette nehmen und mich hinlegen.« Ohne sich noch mal umzudrehen, ging sie ins Schlafzimmer und schob die Türen hinter sich zu.
Auch gut, dachte Mansfield und warf einen Blick auf seine Uhr.
Noch vier Stunden bis zum Treffen im Capet.
Einige Kilometer entfernt öffnete Durel die Tür zu Laurents Büro und sah seinen Kollegen vor einem offenen Fenster stehen.
»Du bist noch hier, Jean-Philippe?«, fragte er erstaunt und warf einige Papiere auf den Schreibtisch, die die glatte Lederunterlage entlangrutschten und auf dem Boden landeten. Laurent reagierte nicht. Er blieb wie eine Statue regungslos vor dem Fenster stehen. Rasch bückte Durel sich, hob die Papiere auf und legte sie vorsichtig, aber unsortiert auf die Lederunterlage.
»Der Amerikaner hat die Frau übrigens wiedergefunden«, sagte er beiläufig auf dem Weg zur Tür, und nur ein leises Murren zeigte ihm, dass Laurent ihn gehört hatte. Er war schon fast draußen, als der Kommissar sich zu ihm umdrehte.
»Woher weißt du das?«
»Er hat es mir selbst gesagt.«
»Wann?«
»Gerade eben. Am Telefon.«
»Und warum hat er nicht mich angerufen?«
Durel zuckte mit den Schultern. »Vielleicht warst du nicht im Büro?« Doch Laurent erinnerte sich, wie das Telefon vor einigen Minuten geklingelt hatte. Er war nicht rangegangen.
»Gut«, sagte er nur und drehte sich wieder zum Fenster um.
»Du magst den Amerikaner nicht, n’est-ce pas?«
»Nein. Hoffentlich seh ich ihn nie wieder«, brummte Laurent nur, was bedeutete, dass er das Thema nicht vertiefen wollte. Durel tat ihm den Gefallen, wünschte ihm noch ein schönes Wochenende und schloss die Tür hinter sich.
Er wusste, dass Laurent noch lange am Fenster stehen würde, so wie er es immer tat, wenn er an Marie, seine Frau, dachte. Marie hatte ihn vor zehn Jahren verlassen, und er war nie darüber hinweggekommen.
Er liebt sie noch immer, obwohl sie ihm das angetan hat, dachte Durel, während er das Gebäude verließ und
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